Bundestrainer Löw vollendet, was er vor acht Jahren begann, und steht nun in einer Reihe mit den Weltmeistertrainern Herberger, Schön und Beckenbauer. Doch fertig ist er noch nicht

Joachim Löw schritt über den Rasen des Maracanã, die Hände tief in den Hosentaschen. Gut 50 Meter hinter seinem Rücken wischten sich seine Spieler vor der Kurve der deutschen Fans die Freudentränen aus den Gesichtern. Durch die Stadionlautsprecher dröhnte „An Tagen wie diesen“ von den Toten Hosen, über der Arena knallte buntes Feuerwerk – und Löw lief allein über den Rasen.

Er ging langsam zu einer schwarzen Truhe vor seiner Trainerbank. Auf ihr stand eine Wasserflasche, Löw schraubte den Deckel ab und nahm einen Schluck. Dann schaute er hoch zur Tribüne, wo die Weltpresse und die Prominenz saß und eben noch gebannt verfolgt hatten, wie die deutsche Nationalmannschaft 120 Minuten lang in einem denkwürdigen WM-Finale mit den Argentiniern um den Titel rang und am Ende den Sieg mit 1:0 (0:0) erzwang. In diesem Moment muss ihn ein Gefühl der völligen Genugtuung überkommen haben, und er konnte es nun nicht mehr unterdrücken: Er ballte die Hand zur Faust und riss sie hoch in den Himmel. Eine Siegerpose, wie man sie selten zuvor gesehen hat beim 54-Jährigen.

Jene Szene spielte sich abseits des Freudentaumels der neuen Weltmeister ab. Die Faust, sie war schnell wieder in der Hosentasche verschwunden, und während seine Spieler vor der Kurve sangen und tanzten, ging Löw zu ihren Frauen und Freundinnen, die hinter der Trainerbank warteten, und bedankte sich mit einer Umarmung bei jeder Einzelnen von ihnen. Schon nach dem Abpfiff war er zu seinen Spielern gelaufen, hatte den weinenden Bastian Schweinsteiger an seine Brust gedrückt und danach seine Assistenten Hansi Flick und Andreas Köpke umarmt. Im Moment seines größten Triumphes gönnte sich der Bundestrainer keine großen Inszenierungen. Er genoss ihn nicht allein, sondern mit den Menschen, die ihn auf seinem Weg begleitet hatten.

Schon einmal lief ein Weltmeistertrainer im Augenblick seines größten Triumphes abseits des Getümmels: 1990 flanierte Franz Beckenbauer über den Rasen des Stadio Olimpico von Rom. 1:0 hieß auch damals das Ergebnis für Deutschland gegen Argentinien im WM-Finale, und Beckenbauer zelebrierte den Moment allein und in Gedanken. Dieses Bild stand lange für die letzte goldene Ära der DFB-Elf. Aber es hat sich immer mehr auch zu einem Gespenst für Löw entwickelt, denn es illustrierte, was die Republik nunmehr auch ihm abverlangte: es Beckenbauer gleichzutun und Deutschland endlich wieder zum Weltmeistertitel zu führen. Mit seinem Finalerfolg gegen Argentinien im Maracanã von Rio de Janeiro – 24 Jahre und fünf Tage nach der magischen Nacht von Rom – hat Löw die Lücke zu Beckenbauer geschlossen. Er ist aufgerückt in die Ahnengalerie der drei deutschen Weltmeistertrainer und steht nun in einer Reihe mit Sepp Herberger (1954), Helmut Schön (1974) und Beckenbauer. „Zuerst kann man das gar nicht realisieren“, sagte Löw auf der Pressekonferenz nach dem Finale. Seine Worte wollten nicht so recht zu seinem ernsten Gesichtsausdruck passen: „Dieses tiefe Glücksgefühl wird für alle Ewigkeit bleiben.“ Anstatt über sich und seine Genugtuung zu sprechen, nahm Löw noch einmal das Spiel in seine Einzelteile auseinander, referierte detailliert über den guten Matchplan der Argentinier und erklärte, warum sich sein Team lange Zeit so schwergetan habe.

Auch im Moment seines größten Erfolgs vermied Löw große Worte

Auf der Pressekonferenz von Rom vor 24 Jahren hatte ein amerikanischer Journalist mit einem knallroten Baseballcap Beckenbauer die letzte Frage gestellt: Es war eine nach der Zukunft des deutschen Fußballs – nun, da ja nach der Wiedervereinigung auch noch all die Talente aus dem Osten zur Mannschaft dazustoßen würden. Beckenbauer hatte sich triumphierend zu der Aussage hinreißen lassen: „Ich glaube, dass die deutsche Mannschaft über Jahre hinaus nicht zu besiegen sein wird. Das tut mir leid für den Rest der Welt, aber wir werden für die nächsten Jahre nicht zu besiegen sein.“ Es war eine fatale Fehleinschätzung.

Von diesem Hochmut war bei Löw am Sonntagabend nichts zu hören. Der gelernte Großhandelskaufmann aus Schönau im Schwarzwald blieb auch im Moment seines größten Erfolgs ein Mann, der große Gesten und große Worte meidet. Dabei hätte er allen Grund dazu gehabt, sich zu inszenieren und seine eigene Leistung hervorzuheben. Denn dass er tatsächlich noch erreichen würde, was man ihm abverlangte, hatte ihm fast niemand mehr zugetraut.

Vor acht Jahren hatte Joachim Löw seine Titelmission als Chefcoach begonnen, als er das Amt des Bundestrainers von Jürgen Klinsmann übernahm, mit dem er als Assistent das Sommermärchen bei der Heim-WM 2006 erlebte. Dreimal hatte er seine Mannschaft dicht herangeführt an einen Titelgewinn. Dreimal war er gescheitert. Das verlorene EM-Finale gegen Spanien 2008 verzieh man ihm noch, weil seine Mannschaft noch nicht titelreif war und die Spanier eine Klasse für sich. Als bei der WM 2010 im Halbfinale erneut gegen die Spanier das Aus kam, galt er dennoch als Erneuerer, weil sein junges Team einen erfrischenden Fußball zeigte. Doch die 1:2-Niederlage im Halbfinale der EM 2012 gegen Italien verzieh man ihm nicht mehr, weil er sich in dieser einen Partie mit der Aufstellung vertan hatte, während des Spiels tatenlos mit ansah, wie seine Mannschaft unterging und Deutschland damit in der öffentlichen Wahrnehmung fahrlässig um den verdienten und ersehnten Titel gebracht hatte. Dieses Spiel blieb an Löw kleben wie Kaugummi an einer Schuhsohle mit Profil, und es sorgte für ein Misstrauen ihm gegenüber, das sich bis weit hinein in die Weltmeisterschaft in Brasilien zog. Löw war zum Schönling mit der Vorliebe für schöne Dinge reduziert, der aber immer dann versagt, wenn es darauf ankommt.

Das Resultat dieser kollektiven Skepsis waren endlose Debatten über Löws Kaderzusammenstellung mit nur einem echten Stürmer (Miroslav Klose) und die Position von Kapitän Lahm im Mittelfeld oder in der Viererkette. Einen durchdachten Plan, der auch zum Titel führen würde, traute man Löw nicht mehr zu. Dass er diesen hatte, belegt auch ein vertrauliches Gespräch, das ARD-Kommentator Tom Bartels vor dem Turnier mit Löw führte: Löw habe ihm vor gut fünf Wochen schon prophezeit, dass Lahm nur solange im Mittelfeld spielen werde, bis Schweinsteiger und Sami Khedira endgültig fit würden, erzählte Bartels kurz vor dem Finale in einem Interview. Und Löw habe ihm gesagt, dass Klose von dem Zeitpunkt an im Sturm gesetzt sein werde, sobald der 36-Jährige einhundertprozentig belastbar sei. Beides trat so ein.

Vor der WM wurde viel spekuliert, ob Löw im Falle des Weltmeistertitels zurücktreten werde, weil er erreicht habe, was er sich vorgenommen hatte. Nun aber deutete Löw an, dass er seinen Weg mit dieser Mannschaft noch nicht als beendet ansieht: „Dieser Titel wird uns für die Zukunft einen Schub geben. Wir haben Spieler, die noch sehr jung sind: Mario Götze, Mesut Özil, Marco Reus, Toni Kroos“, sagte Löw, und es klang nach Lust auf mehr. Sein Vertrag beim DFB läuft noch bis 2016. Konkret über seine Zukunft aber wollte sich Löw freilich noch nicht äußern. Er werde „erst einmal mit dem Präsidenten sprechen“, betonte der Bundestrainer. Dieser allerdings geht fest von einer weiteren Zusammenarbeit aus. „Er wird auch in zwei Jahren Trainer sein“, sagte DFB-Präsident Wolfgang Niersbach.

Um Löw herum würde sich nur eine Personalie verändern: Sein Assistenztrainer Flick wird neuer DFB-Sportdirektor und muss ersetzt werden. Teammanager Oliver Bierhoff dagegen gedenkt weiterzumachen. „Und wie ich Jogi die letzten Tage und Wochen gesehen habe, gehe ich auch bei ihm davon aus“, sagte Bierhoff.

Löw hat geschafft, was vor ihm noch niemandem gelang: Er führte ein europäisches Team auf dem amerikanischen Kontinent zum WM-Titel. Nun könnte er ein ähnlich exklusives Ziel verfolgen: den Gewinn der EM 2016 in Frankreich. Den WM- und den EM-Titel zu gewinnen, gelangen bisher nur zwei Trainern: dem Spanier Vicente del Bosque (2010 und 2012) und einem gewissen Helmut Schön (1972 und 1974).