Mario Götze hat im Endspiel Geschichte geschrieben. Unbeschwert feiern konnte er den wichtigsten Treffer seiner Karriere nicht

Etwas ungläubig schaute Mario Götze nach oben. Lukas Podolski hatte gerade seinen Sohn Louis von der Tribüne geholt, Manuel Neuer turnte irgendwo mit der Deutschland-Flagge herum, und Bastian Schweinsteiger und Miroslav Klose lagen sich weinend in den Armen. Und Götze, der etwas verloren nur wenige Meter von all dem Jubel und Trubel entfernt stand, guckte sich die Szenerie auf dem überdimensionalen Videowürfel des Maracanã an. Die Augen weit aufgerissen, den Kopf ab und an etwas ungläubig schüttelnd. Es sah ein bisschen so aus, als ob sich der Siegtorschütze des Finales der 20. Fußball-Weltmeisterschaft auch tatsächlich vergewissern wollte, dass er an diesem historischen Sonntagabend nicht in einen falschen Film geraten war. Er war es nicht. Im Gegenteil. Mario Götze war der Hauptdarsteller.

Passiert war es eine knappe halbe Stunde zuvor.

André Schürrle hatte in der 113. Minute des Endspiels zwischen Deutschland und Argentinien von links geflankt. Etwas zu hoch. Und auch etwas zu weit weg vom Tor. Doch der für Miroslav Klose erst in der 88. Minute eingewechselte Götze nahm den Ball trotzdem mit der Brust an, als ob es das Leichteste der Welt wäre. Der Münchner legte sich den Ball in aller Seelenruhe selbst vor und bugsierte ihn dann technisch filigran an Argentiniens Torhüter Sergio Romero vorbei ins Netz. Ein echter Kunstschuss – und das perfekte Happy End eines unvergesslichen Final-Thrillers.

„Ein unglaubliches Gefühl. Man begreift gar nicht, was da gerade passiert ist“, sagte Götze, als er wenig später nach der Siegesfeier auf dem Rasen als von der Fifa ausgezeichneter „Man of the Match“ auch noch zur Pressekonferenz musste. Nur zwei Fragen, flüsterte der 22-Jährige etwas widerwillig dem Fifa-Moderatoren zu, der Götze strahlend den zweiten Pokal des Abends überreichte. Den ersten, diesen 6,2 Kilogramm schweren und 36,8 Zentimeter großen Goldpott, den hatte er schon kurz zuvor in den Abendhimmel von Rio de Janeiro gestemmt.

Götze hätte nun ein bisschen über den schönsten Moment seines Lebens palavern können. Über den Titel. Den Pokal. Oder über das wichtigste Tor seiner Karriere. Das alles wollte der Jungstar aber nicht. „Es war natürlich kein einfaches Jahr für mich. Es war auch kein einfaches Turnier für mich“, sagte der gefeierte Finaltorschütze stattdessen, und bedankte sich zum Abschluss der ungewöhnlichen Eine-Minute-und-30-Sekunden-Pressekonferenz dann noch bei seiner Familie – „und bei meinem engen Freund Volker Struth, der immer an mich geglaubt hat“.

Volker Struth, das ist der wohl mächtigste Fußballberater Deutschlands. Er war es auch, der seinen Super Mario ein Jahr zuvor für die festabgeschriebene Ablöse von 37 Millionen Euro von Borussia Dortmund zu Bayern München transferierte. „Ein neues Kapital steht vor mir“, hatte Götze seinerzeit versehentlich über Twitter mitgeteilt und so mit seinem ebenso missglückten Auftritt bei seiner offiziellen Vorstellung, als er Bayern-Sponsor Adidas mit einem Nike-Shirt brüskierte, für einen durch und durch vermasselten Start beim FC Bayern gesorgt.

Es sei „unglaublich viel auf den Jungen eingeprasselt“, hatte Münchens Sportdirektor Matthias Sammer eilig versucht, sein Hauptinvestment in Schutz zu nehmen. Doch das zu dem Zeitpunkt 21 Jahre alte Kind war längst in den Brunnen gefallen. Mario Götze, Professorensohn, in Memmingen geboren, in Dortmund aufgewachsen, sollte das letzte bajuwarische Puzzlestück sein, das aus einer extrem guten Mannschaft eine galaktische macht. Doch der Plan schien zu scheitern, noch ehe der hochtalentierte Fußballer seine Münchner Wohnung in der Nähe des Gärtnerplatzes so richtig eingerichtet hatte. Ein gutes Spiel, ein schlechtes Spiel, die Ersatzbank und dann wieder die Tribüne. Auf der Überholspur musste Götze, der in Dortmund noch zu den Säulen des Hochgeschwindigkeits-Spiels der Borussia gezählt hatte, lernen, dass die Uhren in München anders ticken. „Die Öffentlichkeit muss einfach akzeptieren, dass es im Leben eines jungen Menschen auch mal eine Zwischenphase gibt“, sagte Bayern-Sportdirekt Sammer entschuldigend, „man darf so etwas nicht immer gleich als Tragödie titulieren.“

Natürlich war es keine Tragödie. Es war ein echtes Drama. Zumindest empfand es Götze selbst so. Denn ebenso natürlich war auch ihm aufgefallen, dass er bei der WM in Brasilien noch immer in der Sammerschen Zwischenphase steckte. Insgesamt saß dieser hochbegabte und vor allem selbstbewusste Zauberfußballer mehr auf der Bank als das er spielte – und wirklich freuen konnte er sich darüber nicht. „Es war wirklich nicht einfach“, wiederholte Götze also die Worte der Pressekonferenz wenige Minuten später, als er durch die Katakomben mit einem Becher voll Wodka-Red-Bull schlich. Er ging alleine Richtung Mannschaftsbus, die goldene WM-Medaille um den Hals gehängt. Seine Kollegen Neuer, Sami Khedira, Per Mertesacker und Roman Weidenfeller kamen wenig später singend und tanzend hinterher. „Oh, wie ist das schön“, grölten die vier.

Nur Götze, der Deutschlands wichtigsten Treffer seit Andreas Brehmes Elfmetertor vor 24 Jahren erzielt hatte, wollte nicht grölen. Helmut Rahn, Gerd Müller, Andreas Brehme, Mario Götze. Mehr geht nicht. Ob er noch gar nicht realisiert habe, dass er gerade Weltmeister und ein echter Fußballheld geworden sei? „Noch nicht“, antwortete Götze, „das wird noch ein bisschen dauern, bis ich eine Distanz zu all dem Geschehenen habe.“

Vielleicht braucht dieser 22 Jahre alte Bursche tatsächlich einfach nur ein bisschen Zeit, um das Passierte zu begreifen. Und es ist ja auch nicht einfach zu begreifen, was da passiert war. Da war Bundestrainer Joachim Löw („Mario ist ein Wunderkind“) in der Halbzeitpause der Verlängerung zu ihm gekommen, und hatte Götze gesagt: „Jetzt zeige der ganzen Welt, dass du besser bist als Messi und dass du dieses Spiel entscheiden kannst.“

Und Götze? Der zeigte, dass er besser war als Messi. Zumindest an diesem Abend. Und er zeigte, dass er ein Spiel alleine entscheiden kann. Es war einfach alles wie in einem Film.

Nur besser. Und echt.