Der Profi von Real Madrid verpasste wegen einer Wadenverletzung das Finale – sein unerfahrener Ersatz Christoph Kramer spielte mutig, musste aber nach nur 30 Minuten wegen einer Gehirnerschütterung raus. Gefeiert wurde trotzdem.

Rio de Janeiro. Es sollte sein Spiel werden, die Partie seines Lebens, die Krönung einer unglaublichen Willensleistung. Acht Monate nach seinem Kreuzbandriss beim Länderspiel in Mailand gegen Italien (1:1) hatte sich Sami Khedira mit Bravour bis ins WM-Finale gekämpft. Im Halbfinale gegen Brasilien hatte der 27-Jährige die letzte Begründung geliefert, warum Joachim Löw für den Profi von Real Madrid seine Prinzipien aufgeweicht und ihn für die WM-Endrunde nominiert hatte, obwohl Khedira die Voraussetzungen für sein körperbetontes Spiel bei Weitem noch nicht erfüllte. „Mit seiner Persönlichkeit und seiner Erfahrung ist er unverzichtbar für die Mannschaft“, erklärte der Bundestrainer damals seine Entscheidung. Und wurde eindrucksvoll bestätigt.

Khedira war eine der tragenden Figuren auf dem Weg bis zum Endspiel. Am Sonntag jedoch war er schon kurz vor dem Anpfiff eine tragische Figur. Eine im Vergleich zur damaligen Knieverletzung äußerst banale Wadenverletzung stoppte ihn auf der letzten Etappe. Einfach unglaublich bitter.

Wer nun geglaubt hatte, dass Löw die Variante mit Philipp Lahm im Mittelfeld neben Bastian Schweinsteiger als Ersatz wählen würde und Jerome Boateng rechts hinten und Per Mertesacker innen verteidigen würden, sah sich getäuscht. Der Bundestrainer nominierte stattdessen Christoph Kramer, für den, in diesem Fall sei die Formulierung erlaubt, zunächst ein einmaliges Fußballmärchen wahr wurde.

Bis vor einem Jahr spielte der 23-Jährige noch für den VfL Bochum in der Zweiten Liga, verliehen von Bayer Leverkusen. Nach einer starken Saison für Borussia Mönchengladbach (wieder auf Leihbasis) feierte der gebürtige Solinger in Hamburg beim „Reservisten-Ball“ gegen Polen seine DFB-Premiere – und schaffte es überraschend erst in den 30-köpfigen vorläufigen WM-Kader und später sogar in den Flieger nach Brasilien. „Wenn der Bundestrainer sagen sollte, dass ich spiele, werde ich nicht Nein sagen. Ich bin in Alarmbereitschaft“, sagte Kramer frech. Die Tradition, wonach jeder Neuling eine Rede halten muss, wandelte er ab, indem er nach dem 4:0 gegen Portugal auf der Fähre zurück zum Hotel „When you say nothing at all“ von Ronan Keating sang.

Lange Zeit sah es jedoch ganz so aus, dass für ihn nur die Rolle des bescheidenen Hinterbänklers vorgesehen wäre. Seine Einsatzbilanz während des Turniers gestaltete sich durchaus übersichtlich: elf Minuten in der Verlängerung des Achtelfinales gegen Algerien, zwei Minuten im Viertelfinale gegen Frankreich. Doch Löw vertraute im WM-Finale auf den Youngster wegen dessen Laufstärke: Kein Bundesligaspieler hatte in der abgelaufenen Saison mehr Kilometer zurückgelegt als eben Kramer.

Und der Plan ging zunächst auch gut auf. Kramer agierte erstaunlich ruhig und mutig, übernahm den offensiveren Part in der Zentrale, während Schweinsteiger wie zuletzt den defensiveren Quarterback gab. Auf der Ersatzbank spielte auch Khedira mit – zumindest gefühlt. Ständig war er in der Coaching-Zone zu sehen, wie er anfeuerte, meckerte und mitzitterte. Wie in der 17. Minute, als Kramer plötzlich in Strafraumnähe der Argentinier am Boden lag. Was war passiert? Als Ezequiel Garay kompromisslos klärte, knallte seine Schulter mit voller Wucht gegen Kramers Kopf. Ein Treffer wie ein K.-o.-Schlag.

Sichtlich benommen stand Kramer nach kurzer Behandlungszeit wieder auf und kehrte aufs Spielfeld zurück, versuchte es noch einmal. Doch zehn Minuten später musste er signalisieren: Nichts geht mehr. Mit Verdacht auf Gehirnerschütterung musste der Gladbacher, gestützt von Teamarzt Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt und Physio Klaus Eder, raus. Das zweite Drama innerhalb so kurzer Zeit für die DFB-Auswahl.

Nach kurzer Beratung mit Co-Trainer Hansi Flick entschied sich Löw für eine offensive Auswechslung: Während sein Lieblingsjoker André Schürrle den linken Flügel besetzte, rückte Mesut Özil in die offensive Zentrale. Toni Kroos wiederum sollte das Spiel in der Folge neben Schweinsteiger entwickeln. Philipp Lahm, um den es so viele Diskussionen gegeben hatte, ob er im Mittelfeld spielen solle oder nicht, blieb dort, wo er eigentlich nicht mehr hinwollte: auf der Rechtsverteidiger-Position.

Auch wenn Schürrle viel Produktives gelang: Khedira, der weiter ständig seine Kollegen auf dem Platz anfeuerte, auch die deutschen Fans animierte, schien dem DFB-Team mit seiner körperlichen Präsenz entscheidend zu fehlen. Doch dann raste Schürrle in der 113. Minute auf links davon, legte Mario Götze zum 1:0 auf. Bei der Pokalübergabe durften Khedira und Kramer mitjubeln. Wenn das kein Happyend nach gleich zwei persönlichen Dramen ist.