Hamburg feiert den dramatischen WM-Sieg. 50.000 Fans fiebern auf dem Heiligengeistfeld mit. Autokorsos auf St. Pauli

Spannender geht es nicht. Bis zur letzten Sekunde der regulären Spielzeit sehnen die 50.000 Besucher des Fanfests auf dem Heiligengeistfeld den Schlusspfiff herbei. Und in der Verlängerung ertönen ununterbrochen spitze Schreie aus der Menge. Aus Partygängern wurden bei diesem Finale echte Fußballfans.

23.24 Uhr. Es ist eine schier unerträgliche Spannung, die sich jetzt endlich mit dem Tor von Mario Götze in einem kollektiven Aufschrei der 50.000 entlädt. Bengalos flammen auf, Sprechchöre skandieren „Super-Mario“. Stoßgebete werden zum Himmel geschickt.

Dann die letzten zwei Minuten. Es ist nicht zum Aushalten. Messi, Sekunden vor Schluss, legt sich den Ball zurecht. Ein Schrei aus 50.000 Kehlen. Drüber. Dann endlich der Abpfiff, aus, aus, das Spiel ist aus! Nach 24 Jahren ist Deutschland wieder Fußball-Weltmeister, zum insgesamt vierten Mal.

In der Kia-Fan-Arena auf dem Heiligengeistfeld brechen jetzt alle Dämme. Fahnenschwenken, verzückte Schreie, Kreischen, Küssen, Herzen, Umarmen, Tränen der Freude und des Glücks. Und natürlich das unverwüstliche Lied von dem „Tag, so wunderschön wie heute...“, das in den zeitgemäßeren Siegerhymnen „We Are The Champions“ (Queen) und „Seven Nations Army“ (White Stripes) allerdings ziemlich untergeht. Aus den gestammelten, gebrüllten, gestotterten Sprachfetzen der Menge sticht ein einziges deutliches Wort hervor: „Geil!“ Der Hamburger Regen ist jetzt vollkommen egal.

Aber die Fans wollen mehr. Sie wollen den Pokal, mit dem spätestens nach dem triumphalen 7:1 im Halbfinale über die Mannschaft des Gastgeberlandes Brasilien nun plötzlich jeder gerechnet hatte. Und sie wollen ihn jetzt. Philipp Lahm, der deutsche Mannschaftskapitän, tut ihnen den ersehnten Gefallen, als er ihn kurz nach Mitternacht in die Höhe stemmt. Jetzt ist es offiziell. Wir sind Weltmeister! Noch einmal die totale Verzückung und grenzenloser Jubel, nicht wenige haben feuchte Augen, einige weinen sogar ungeniert.

Als dann die ersten längeren Interviews und Analysen, die zu diesem Zeitpunkt eigentlich niemand hören und sehen will, über die Großbildleinwand flimmern, macht sich ein großer Teil der 50.000 auf den kurzen Weg zum Epizentrum der WM-Freude: auf den Spielbudenplatz, auf die für Autos gesperrte Reeperbahn, wo sie auf diejenigen Zigtausend anderen treffen, die das Spiel in den Gaststätten oder zu Hause gesehen haben und die jetzt auch nur noch eins wollen: feiern, bis der Arzt kommt. Für die nächsten Stunden bis zum Morgengrauen darf man sich jetzt als ein Volk fühlen, darf man Gewinner sein und stolz und glücklich die Sau rauslassen; einfach mal mitten in der Nacht die Autohupe zum Glühen bringen und das zugelassene Gesamtgewicht des Autos um ein Vielfaches überschreiten. Gasbetriebene Signalhörner sorgen für taube Ohren der Umstehenden, auch Chinaböller fliegen und ein paar Silvesterraketen, die sich die ganz Schlauen für diese Sommernacht der Nächte zurückgelegt haben. Mitten drin im Tohuwabohu stehen Polizeibeamte, die zwar aufmerksam wirken, sich aber ansonsten stur an die Devise der Einsatzleitung halten: „Wir sehen uns das ganz gelassen an und lassen die Menschen feiern!“ 1990 war das noch anders: Da wurden die Reeperbahn, die Ordnungskräfte von der Spontanparty nach dem Titelgewinn kalt erwischt. Harmlose Fans und Hooligans vermischten sich zu einer unheilvollen Melange, als dieser Sturm vorüber war, lag einiges in Scherben. Am Millerntor, auf dem Spielbudenplatz und auf der „Meile“ geht 24 Jahre später, eine knappe Stunde nach dem Abpfiff ebenfalls nichts mehr. Aber es ist friedlich. Die Luft dampft, Bierbecher aus Plastik fliegen – das gehört dazu. Die Menge wogt hin und her, die Solidaritätstrikots sind durchgeschwitzt, die schwarz-rot-goldene Fanschminke auf den Wangen verschmiert.

Je weiter man sich durch die Nebenstraßen von Reeperbahn und Spielbudenplatz entfernt, desto trunkener und intimer wird die kollektive Freude über den Titelgewinn ausgelebt. Denn hier haben die durstigen Fans wenigstens eine reelle Chance, in den Schankräumen und Bars Getränke zu bekommen. Geld spielt keine Rolle. Und hier trifft man auch vereinzelte St. Paulianer, die von dieser bierseligen Ausgelassenheit eine ganz andere Meinung haben, weil sie den ganzen „Nationalismus“ (falsch), den „Patriotismus“ (fast richtig), den „Party-Patriotismus“ (richtig) und das dazugehörende „Fahnen- und Deutschland-Gedöns“ schon immer strikt abgelehnt haben und nun demonstrativ so tun, als gehörten sie nicht dazu. Aber vielleicht freuen sie sich doch. Ein bisschen. Wenn auch nur klammheimlich. Für Hamburg hatte die Fußball-Weltmeisterschaft wegen des Spielplans ja erst am Montag, 16.Juni, um 18Uhr begonnen: Der Gegner im fernen Salvador de Bahia hieß Cristiano Ronaldo, auch Portugal genannt.

In der Stadt herrschten perfekte äußere Bedingungen, die Sonne strahlte, aber es war nicht zu heiß, und so begannen die Sanitäter auf dem Heiligengeistfeld rasch sich zu langweilen. Zum Auftakt waren rund 45.000 Fans gekommen, aber bis zum Ende dieses ersten Gruppenspiels mussten sie nur vier Kreislaufzusammenbrüche und ein halbes Dutzend Alkoholopfer behandeln, nichts Ernstes also, zum Glück. Dafür kochten ein paar Automotoren im gestauten Berufsverkehr auf den großen Ausfallstraßen, der früher eingesetzt hatte als üblich, Gleitzeit sei Dank. Auffällig war auch: Vier Jahre zuvor, während der Fußball-WM in Südafrika, fuhr etwa jedes zweite Auto mit einer oder gleich mehreren Deutschland-Fähnchen geschmückt herum, jetzt aber waren es deutlich weniger. Und die paar vereinzelten brasilianischen Sambatrommeln hörten sich einfach gefälliger an als die nervtötenden afrikanischen Vuvuzelas. Der zarte Duft von gegrillten Würstchen und Nackenkoteletts hing über der Stadt, als wir dem FC Ronaldo vier Tore einschenkten. Humorlos. Ein überragender Müller im Sturm, ein fantastischer Neuer im Tor, aber dass sich frischgebackene Eltern nun zuhauf dazu durchringen konnten, ihre Söhne Thomas oder Manuel zu nennen: Fehlanzeige, sagten jedenfalls die Standesämter in den folgenden Tagen.

Ja, und dann kam jener fußballhistorische Abend des 8. Juli 2014, als es in den Straßen Hamburgs praktisch menschenleer war und auf dem Heiligengeistfeld gerade mal 3500 Unentwegte vor der Großbildleinwand den Sommergewittern trotzten und schließlich den unglaublichen 7:1-Triumph bejubelten. Nicht nur in Hamburg wurde ein neues Sommermärchen wahr.