Sport und Gesellschaft in Brasilien stehen vor großen Herausforderungen: Der Fußball bedarf der Renovierung, und schon in zwei Jahren ist Olympia

Rio de Janeiro. Die Geier an Rio de Janeiros Stadtautobahn Linha Vermelha (rote Linie) passen zur Stimmung. Von den Laternen gleiten sie in die vermüllte Guanabara-Bucht, um zwischen Sofas und allerlei anderem Unrat die Reste zu verwerten, die die Abwässerkanäle der Stadt in den Meeresarm leiten. Es stinkt erbärmlich, aber den Geiern geht es in der armen Nordzone Rios mit den zahllosen Favelas sehr gut. Täglich sind die Aasvögel hier zu beobachten. Nun gerät ihre Gegenwart noch ein bisschen symbolträchtiger, während sich unter ihnen die Blechlawinen morgens stundenlang Richtung Zentrum schieben und abends ebenso lange wieder heraus.

Plötzlich sind die Staus ja zurückgekehrt, seit die WM für Brasilien durch das 1:7 gegen die deutsche Nationalmannschaft im Halbfinale gefühlt beendet war. Jetzt ist das Turnier tatsächlich Geschichte. Die Sieger feiern ihren Triumph, die Fifa-Granden ihre Milliardeneinnahmen. Die Verlierer trauern – und dazu zählen sich auch die Brasilianer. Allein schon sportlich. Vierter ist die Selecao geworden, nach der Schmach gegen Alemanha setzte es am Sonnabend im Spiel um Platz drei eine 0:3-Niederlage gegen die Niederlande. Die Zuschauer pfiffen zum Abschied und trotteten enttäuscht von dannen.

„Brasilianischer Blackout: Teil 2. Neues Leiden“, schrieb die Sportzeitung „Lance!“ auch mit Blick auf das Debakel im Halbfinale. Vor 68.034 Zuschauern in Brasília geriet der WM-Gastgeber durch einen Elfmetertreffer von Robin van Persie bereits in der 3. Minute in Rückstand. Daley Blind (17.) und Georginio Wijnaldum (90.+1) besorgten mühelos den Rest gegen schwache Brasilianer. Nichts war es mit einem versöhnlichen Auftritt, die Selecao wurde ausgebuht und verschwand in der Kabine, ehe die Niederländer von Fifa-Präsident Joseph Blatter die Bronzemedaillen umgehängt bekamen. „Vergonha total!“ (Totale Schande), schimpften viele Fans. „Trauriges Ende“, titelte das Internetportal uol.com.

„Dass es so zu Ende geht, haben wir nicht verdient. Wir müssen uns beim Volk entschuldigen“, sagte Kapitän Thiago Silva. Ein Umbruch ist nach dem Totalzerfall mit 1:10-Toren in den letzten zwei Partien unausweichlich, aber der entzauberte Trainer Luiz Felipe Scolari sperrt sich noch gegen den Abschied als Nationaltrainer.

Zumindest Neymar schien die Zeichen der Zeit erkannt zu haben. Der verletzte Superstar humpelte während der Pressekonferenz auf die Bühne und unterbrach Scolaris Verteidigungsrede. Neymar herzte den störrischen Coach und gab danach auch dem technischen Direktor Carlos Alberto Parreira die Hand. Es wirkte wie eine Verabschiedung am Ende des frustrierenden Heimturniers, das ursprünglich den „Hexacampeão“, den sechsten Titel, für den Rekord-Weltmeister bringen sollte.

Nun beginnt nach der sogenannten Copa das Copas (Präsidentin Dilma Rousseff), der „besten WM der Geschichte“, wieder der Alltag. Und der funktioniert oft weniger gut als die WM-Touristen meinen könnten nach dem weitgehend reibungslosen Turnier. Alltag, das heißt nun zunächst einmal: aufräumen in Katerstimmung.

Am dringlichsten wird dabei unter dem Eindruck der beiden WM-Schlussakkorde in Moll gerade die Renovierung der Selecao und des nationalen Fußballs dargestellt. Leicht wird das nicht, zumal in dieser Gemütsverfassung.

Die Medien rechnen die „WM der Negativrekorde“ vor. Insgesamt 14 Gegentore sind drei mehr als die so gesehen bislang schlechteste brasilianische Auswahl von 1938 kassiert hat. Es sind auch drei mehr als jener WM-Gastgeber mit den bisher meisten Gegentoren, die Mannschaft der Schweiz 1954. „Und er möchte noch bleiben ...“, lautete die spöttische Schlagzeile der Zeitung „O Globo“ aus dem Hause des gleichnamigen Mediengiganten schon vor dem verlorenen Spiel um Platz drei. Gemeint war natürlich Luiz Felipe Scolari.

Der 65-Jährige wird gerade zum Sündenbock erklärt. Scolaris Vertrag ist mit dem Ende der WM ohnehin ausgelaufen. Er sagte jedoch: „Es ist die Entscheidung des Verbandspräsidenten, was mit mir passiert.“ Hinter den Kulissen des Verbandes CBF geht es allerdings ebenso drunter und drüber wie auf dem Platz. Der designierte Präsident, Marco Polo Del Nero, hatte sich zuletzt für einen Verbleib von Scolari ausgesprochen. Nach der Blamage im kleinen Finale sagte Noch-Verbandschef José Maria Marin der Zeitung „Folha da São Paulo“ jedoch, die Situation mit Scolari sei „unhaltbar“. Adenor „Tite“ Bacci (zuletzt Corinthians São Paulo) und U20-Nationaltrainer Alexandre Gallo gelten als Nachfolgekandidaten, aber auch der Portugiese José Mourinho vom FC Chelsea.

Brasilien versucht sich zu sortieren. Und die Politik beginnt Einfluss zu nehmen, keine drei Monate vor den Wahlen am 5. Oktober. In mehreren Interviews und auf Twitter forderte Präsidentin Rousseff Reformen im brasilianischen Fußball und dessen Institutionen. Zudem dürfe Brasilien nicht weiter Exportweltmeister von Kickern bleiben. „Es geht nicht an, dass unsere Sportler alle im Ausland sind. Wir wollen sie in Brasilien haben“, sagte die 66-Jährige. Andernfalls fehlten die Attraktionen, um die Stadien zu füllen. Doch die stehen im Alltag auch deshalb oft weitgehend leer, weil die Eintrittspreise für viele Fans im Zuge der teuren WM-Bauten unbezahlbar geworden sind.

Die Aussagen ihres Sportministers Aldo Rebelo, der eine „indirekte Einmischung“ der Politik gefordert hatte, versuchte Rousseff zu relativieren. Vorschriften wolle die Regierung dem Fußball nicht machen, dieser dürfe ja gar nicht staatlich sein. Aber: „Wir wollen helfen, ihn zu modernisieren. Zählen Sie dabei auf uns.“ Und auch das war ihr mit Blick auf die Selecao und im Sinne der Deutungshoheit noch wichtig: „Außerhalb der Arenen war die WM ein Erfolg.“ Es ist Wahlkampf in Brasilien.

In diesem müssen nun rasch die noch offenen Entscheidungen getroffen werden, damit der nächste Wettlauf mit der Zeit irgendwie gewonnen wird. In exakt zwei Jahren und drei Wochen beginnen die Olympischen Sommerspiele in Rio, und noch immer sind nicht einmal alle Projekte ausgeschrieben. Viele Baustellen liegen zudem massiv hinter dem Zeitplan. Die geschätzten Kosten von derzeit rund zwölf Milliarden Euro werden wohl weiter steigen. Die Kritik an Zwangsumsiedlungen und Ausgaben für das nächste Spektakel war im WM-Trubel untergegangen, aber sie wird nicht verstummen.

Ein Zehntel der Sportstätten soll bisher erst fertiggestellt sein. Man hinkt dem Zeitplan noch mehr als vor der WM hinterher. Ein Großprojekt ist gar um sieben Jahre in Verzug. Bis 2007 war geplant, die Guanabara-Bucht zu reinigen, in der 2016 die Segelwettbewerbe ohne Sofas, Unrat und Abwässer stattfinden sollen. Die Geier freuen sich über den Aufschub, der OK-Chef schwitzt. „Jeder Tag ist ein Finale“, sagte Carlos Nuzman über die Olympiavorbereitungen. Die Kritiker finden: Eigentlich bräuchte Brasilien vor allem funktionierende Schulen, Krankenhäuser und eine bessere Infrastruktur. Und zwar seit Jahren.

Brasilien: Julio Cesar – Maicon, Thiago Silva, David Luiz, Maxwell – Paulinho (57. Hernanes), Luiz Gustavo (46. Fernandinho) – Ramires (73. Hulk), Oscar, Willian – Jo.

Niederlande: Cillessen (90.+3 Vorm) – Kuyt, de Vrij, Vlaar, Martins Indi, Blind (70. Janmaat) – Wijnaldum, Clasie (90. Veltman), de Guzman – van Persie, Robben.

Tore: 0:1 van Persie (3., Foulelfmeter), 0:2 Blind (17.), 0:3 Wijnaldum (90.+1). Schiedsrichter: Djamel Haimoudi (Algerien). Zuschauer: 68.034.