Der Nationaltorhüter kann am Sonntag gegen Argentinien mit Deutschland Weltmeister werden – was Kahn nicht geschafft hat. „Manu ist ein Geschenk für uns alle“, schwärmt Bastian Schweinsteiger.

Santo André. Irgendwann, als Manuel Neuer noch ein Torwart war und noch nicht ein Außerirdischer wie heute, wurde er gefragt, was ihn von Oliver Kahn unterscheide. Kahn hatte damals den Fußballplaneten schon verlassen, doch der Geist des bis dahin besten Schlussmanns aller Zeiten schwebte weiter im Torhüterstaat Deutschland herum. Neuer durfte nichts sagen. Es war ein Interview, das nur aus Fragen und Fotos als Antworten bestand. Er sollte sich mit einer Geste zu Kahn ins Verhältnis setzen. Neuer nahm den Zeigefinger und Daumen, spreizte sie fünf Zentimeter auseinander und hielt sie sich über seinen Kopf. Die Größe. Das ist der Unterschied.

Jenes Foto aus dem Jahr 2011 erzählt eine Menge über Neuer. Dass er Sinn für Humor hat zum Beispiel, oder dass er eben einen halben Kopf größer ist als Kahn. Aber es illustriert auch den Umstand, dass Neuer lange an die ultimative Vergleichsgröße Oliver Kahn herangehalten wurde – als sein Nachfolger, der sich gefälligst an ihm messen lassen muss.

Das lag auf der Hand: Neuer war gerade von Schalke 04 zum FC Bayern gewechselt und stand kurz vor seinem zweiten Turnier als Nummer eins in der deutschen Nationalelf – zwei Tore, die Jahre lang Kahns Revier waren. Aber dieser Vergleich war gleichermaßen abwegig, weil alles, was Neuer tat und wie er es tat, nicht zu Kahn passen wollte. Das fiel dann irgendwann auch auf. Neuer erhob sich schnell zum besten Torwart weltweit und wurde damit selbst eine Vergleichsgröße. Nach Kahn fragte ihn bald niemand mehr.

Bei dieser Weltmeisterschaft in Brasilien aber ist Oliver Kahn noch einmal gegenwärtig, wenn über Manuel Neuer gesprochen wird. Allerdings haben sich die Größenverhältnisse verschoben. Das Turnier in Südamerika hat sich zu einer WM der spektakulären Torhüter entwickelt: Der Mexikaner Guillermo Ochoa schien 1000 Arme zu haben, der US-Amerikaner Tim Howard plötzlich auf seine alten Tage noch einmal seine Weltklasse zu entdecken und der niederländische Reservekeeper Timothy Krul ausschließlich für Elfmeterschießen auf diese Erde gekommen zu sein. Manuel Neuer aber überstrahlt all diese unverhofften Helden. Eine WM ist immer auch eine Weltmesse des Fußballs, und Neuer hat darin eine neue Form des Torwartspiels ausgestellt. Im Achtelfinale gegen Algerien trat das am stärksten hervor, als der 28-Jährige wie ein elfter Feldspieler über den Rasen hetzte, Gegenangriffe mit Grätschen und Kopfbällen unterband und danach als moderner Libero in Torwarthandschuhen gefeiert wurde.

„Manu ist ein Geschenk für uns alle“, schwärmte Bastian Schweinsteiger. „Herausragend im Mitspielen“, sei Neuer, sagte Bundestrainer Joachim Löw, und sein Torwarttrainer Andreas Köpke verglich Neuer gar mit Franz Beckenbauer. Zu Neuers beckenbaueresken Spielintelligenz gesellten sich bei dieser WM nämlich auch ein paar unwirkliche Paraden wie im Viertelfinale gegen Frankreich und zuletzt in der zweiten Hälfte des Halbfinals, als die Brasilianer noch einmal aufmuckten. Dass er der modernste Schlussmann auf dieser Weltmesse ist, beweist der Umstand, dass er in seinen bisher gespielten 570 Minuten für einen Torwart unglaubliche 31,5 Kilometer gelaufen ist und 81 Prozent seiner 249 Pässe an den eigenen Mann brachte. Dass er darüber hinaus auch unumstritten der Beste im Kerngeschäft seiner Zunft ist, belegt die Maßeinheit „abgewehrte Torschüsse“: 86,2 Prozent. Kein anderer Keeper kann da mithalten.

Nur ein Mal zuvor wurde eine WM derart von einem Schlussmann dominiert wie diese von Neuer: 2002 in Japan und Südkorea von – genau – Oliver Kahn. Eigenhändig hatte Kahn die limitierte Mannschaft von Teamchef Rudi Völler ins Finale geführt und wurde später als erster Torwart überhaupt zum besten Spieler des Turniers gewählt. Aber die WM ließ Kahn auch als tragischen Helden zurück, weil der zuvor Fehlerlose im Endspiel gegen Brasilien patzte und die 0:2-Niederlage einleitete. Neuer war damals 16 Jahre alt. Neulich hat er erzählt, dass er das Finale 2002 zusammen mit einem Nachwuchskoordinator der Gesamtschule Berger Feld in Gelsenkirchen am TV verfolgte, wo fast alle Schalker Jungspieler ihren Abschluss machen.

Nun, zwölf Jahre später, steht er nach einem überragenden Turnier selbst im Finale. Gegen Argentinien am Sonntag im Maracana von Rio de Janeiro wird auch sein Können gegen Lionel Messi und die „Weiß-Himmelblauen“ darüber entscheiden, ob Deutschland zum vierten Mal Weltmeister werden kann. Dass ihn Kahns Schicksal von 2002 ereilt, ist kaum vorstellbar. Von Kahn war das Bild entworfen worden, ein Titan zu sein, und er spielte das Spiel gern mit. Titan, dieses Bild eines Riesen aus der griechischen Mythologie in Menschengestalt, das passte zu dem Mann, der noch immer so gern über Drucksituationen philosophierte. Und immer dann stärksten war, wenn die Anfeindungen wuchsen.

Zu Neuer, der stets Kahns Rivalen Jens Lehmann als sein Vorbild nannte, hat dieses Bild dagegen nie gepasst. Was seinen Ehrgeiz betrifft, gibt es zwar Ähnlichkeiten: „Im Training dreht Manu durch, wenn er ein Tor kassiert“, sagt sein früherer Schalke- und heutiger Nationalteamkollege Julian Draxler. Doch im Gegensatz zu Kahn strahlt er Ruhe, Zuversicht und Gelassenheit aus. Sein Spiel ist ausbalanciert und nicht beschränkt auf die Unüberwindbarkeit, sondern er sucht sich Wege in schwierigen Situationen.

Und gerade in den entscheidenden Spielen wächst Neuer zu enormer Größe heran. Gelingt ihm genau dies nun auch gegen Argentinien im WM-Finale, dann sind es nicht mehr nur fünf Zentimeter, die ihn von Kahn unterscheiden. Es sind dann 36,8. So groß ist der WM-Pokal.