Argentinien hat eine Defensiv-Formation gefunden, die dem Gegner weder Zeit noch Raum gibt. Messi ist der Star, Mascherano der heimliche Chef

Rio de Janeiro. Die Geschichte Argentiniens bei dieser WM erzählt am besten Javier Mascherano. Aus „El Jefecito“ (dem Chefchen), ist längst „El Jefe“ geworden oder sogar „El Jefazo“ – der große Chef. Mascherano war es, der sich vor dem Elfmeterschießen gegen die Niederlande Torwart Sergio Romero schnappte und ihm unmissverständlich einschärfte: „Du isst heute die Welt auf, du wirst der Held sein“. Mascherano ist derjenige, der kommandiert. Und der nach dem Spiel allen erklärt, wie diese Mannschaft tickt und fühlt.

Nach überstandenem Halbfinale sprach der Mittelfeldmann von „Stolz, der die Seele berührt“ und der folgenden Chance als dem „Spiel unseres Lebens“. Eine riesige argentinische Kolonne ist seit Donnerstag auf dem Weg von São Paulo, dem Ort des Finaleinzugs, nach Rio de Janeiro, dem Ort des Finals. Weitere Anhänger werden von weiter südlich aus der Heimat dazu stoßen. Erinnerungen an das erste WM-Wochenende werden wach, als bis zu 100.000 Fans die Stadt in hellblau und weiß kleideten. Argentinien begann seine WM gegen Bosnien an einem Sonntag im Maracanã. Es wird seine WM an einem Sonntag im Maracanã beenden.

Der Glaube an die Vorsehung und die Euphorie in der Mannschaft treffen auf ein Deutschland, das seine spielerische Überlegenheit mit derselben Coolness auf den Platz bringen will wie gegen Brasilien. Ein faszinierender Gegensatz, den der unterschiedliche Dramafaktor der jeweiligen Halbfinals weiter akzentuierte und der auch an den Äußerungen im Vorfeld abzulesen ist. „Wir haben noch nichts erreicht“, sagt Manuel Neuer. „Wir waren uns und unseren Leuten diese Freude schuldig“, sagt Maxi Rodríguez. Favorit und Außenseiter, die Selbstverpflichtung zum Titel gegen das Gefühl, die Erwartungen in jedem Fall schon erfüllt zu haben.

Auch die eigenen, wie Rodríguez präzisierte: „Das Wichtigste war, die Hürde Viertelfinale zu überspringen“. Spätestens an der war Argentinien in den fünf Weltturnieren zuvor gescheitert, „die Älteren von uns kamen mit viel Wut“. Mascherano soll diese auf den Punkt gebracht haben, als er vor dem Viertelfinale gegen Belgien durch die Kabine rief: „Ich habe genug davon, auf die Fresse zu bekommen. Für mich, für die Ex-Spieler, für uns – wir müssen diese Hürde überwinden. Vamos!“

Vor vier Jahren war es im Viertelfinale Deutschland, dass sich als zu hohe Barriere erwies. Das 4:0 von Kapstadt weist insofern Parallelen zum 7:1 gegen Brasilien auf, als keine andere Mannschaft der Welt taktische Schwächen der Gegner derart brutal zu bestrafen versteht wie die Löw-Elf. Jeder weitere Vergleich würde den Argentiniern Unrecht tun, aber auch ihnen fehlte damals die Balance. Und so war es schon ganz interessant, den damaligen Trainer Diego Maradona am Donnerstag in einer TV-Sendung taktische Ratschläge an Nach-Nachfolger Alejandro Sabella geben zu hören: „Man muss das Passspiel der Deutschen stören und sie im Mittelfeld unter Druck setzen.“

Während Alemania zusätzlich zum damaligen Tempospiel inzwischen den Ballbesitzfußball erlernt hat, kämpfte Argentinien bis zuletzt mit dem alten Gleichgewichtsproblem. Es schien einfach keine Lösung zu geben für das Puzzle, vorn die „Fantastischen Vier“ – Lionel Messi, Ángel Di María, Kun Agüero, Gonzalo Higuaín – aufbieten zu wollen, ohne dies entweder mit Problemen im Spielaufbau oder in der Defensive zu bezahlen. Agierte Sabella mit einem 4-3-3-System, blieb Argentinien hinten so anfällig wie in Kapstadt. Trat er – wie in der ersten Halbzeit gegen Bosnien (2:1) – mit fünf Verteidigern an, fehlten im Mittelfeld die Anspielstationen für die Offensive.

Die Spieler, mit Messi und Mascherano an der Spitze, trieben dem Trainer den fünften Verteidiger wieder aus, aber die Probleme blieben zunächst bestehen. Der Iran schaffte es mit 114 Pässen in 90 Minuten – der niedrigste Wert der WM-Geschichte – den argentinischen Torwart Sergio Romero zu mehreren Glanzparaden zu zwingen und unterlag erst in der Nachspielzeit durch einen Messi-Moment mit 0:1. Nigeria verwickelte den Favoriten in der folgenden Partie in eine offene Feldschlacht, die es knapp verlor (2:3). Kurzum, ohne die wohlwollende Auslosung wäre Argentinien schon in der Vorrunde am Abgrund gewandelt.

Erst im Laufe der K.o.-Runde fand die jahrelange taktische Reise ein Ziel. Ironischerweise halfen Sabella dabei die Verletzungen einiger seiner Stars. Für Agüero rückte Ezequiel Lavezzi in den Angriff, der deutlich mehr nach hinten arbeitet und über weite Strecken als vierter Mittelfeldspieler agiert. Nach einer halben Stunde des Viertelfinals gegen Belgien fiel dann auch noch Di María aus. Eine herbe Schwächung des Offensivpotenzials, doch der dafür ins Team gerückte Enzo Pérez bespielt verlässlicher das Zentrum. Wo Mascherano einst alleine war, stand gegen Holland ein massiertes Mittelfeld, das dem Gegner weder Raum noch Zeit am Ball ließ.

Daher wird im Finale nun allgemein ein Geduldsspiel prognostiziert, bei dem es für Deutschland wesentlich auf Geschwindigkeit und Präzision bei der Ballzirkulation ankommen wird. Nur so dürfte sich Löws Elf die Räume erarbeiten können, die sie vor vier Jahren oder nun gegen Brasilien quasi geschenkt bekam. Als hilfreich auf der Suche nach der Lücke könnte sich die wahrscheinlich überlegene Fitness erweisen. Argentinien hatte einen Tag weniger Pause und das längere sowie anstrengendere Halbfinale zu spielen. Und schon nach der Partie gegen Belgien berichtete Messis Vater Jorge: „Leo hat gesagt, dass es ihm vorkam, als hätte sein Bein hundert Kilo gewogen. Er war sehr müde.“

Andererseits ist jetzt ja Finale, das Spiel, dass sie alle erreichen wollten – „ob schön oder hässlich“, wie Di María schon vor einer Woche sagte. Argentinien spielt ohne Komplexe und mit der Balance zwischen Herz und Vernunft, die es immer gesucht hat. Nach dem Finaleinzug, am Ziel eines langen Weges vergoss Mascherano ein paar Freudentränen und sagte: „Wir waren wir.“