Argentinien feiert nach dem Sieg gegen die Niederlande Torhüter Romero. Der Finaleinzug ist vor allem das Resultat einer unbegrenzten Leidenschaft

São Paulo. Wüst trommelte Sergio Romero auf seine Brust, es war die Geste des Triumphs. Romero. „Ausgerechnet“, heißt es dann immer. Vor der WM wurde er als Argentiniens große Schwachstelle gehandelt, ein Torwart ohne Einsatzzeit, bloß Ersatz beim AS Monaco. Ein Risiko. Die Experten erklärten Trainer Alejandro Sabella für tollkühn – wenn sie freundlich gesinnt waren. Aber jetzt steht Argentinien im Finale, dank Sergio Romero.

Der vermeintliche Fliegenfänger hält schon das ganze Turnier über formidabel, nun erhob er sich im Elfmeterschießen mit zwei Paraden gegen Ron Vlaar (relativ einfach) und Wesley Sneijder (ziemlich schwer) zum Protagonisten, der später anstelle von Argentiniens Superstar Lionel Messi die Auszeichnung zum Mann des Spiels entgegennehmen durfte. Messi war diesmal ziemlich blass geblieben. Doch das war egal. Er jubelte am Ende trotzdem mit geballten Fäusten, wie man ihn noch nie jubeln hat sehen.

Jeder Schritt im Elfmeterschießen, jeder verwandelte Strafstoß, jede Parade Romeros wurde von den Argentiniern mit einer Inbrunst begleitet, der die Niederländer letztlich nichts mehr entgegenzusetzen hatten. Es sah so aus, als wollten die Südamerikaner dieses Finale noch ein bisschen mehr, noch unbedingter. Auch am Spielfeldrand war das zu sehen. Louis van Gaal schützte sich vor dem strömenden Regen unter dem Dach seiner Trainerbank. Sabella hingegen stand permanent am Rand der Coaching Zone, den feinen Zwirn komplett durchnässt.

Als es geschafft war, drehten die Spieler eine Ehrenrunde durch das Stadion. Vor jeder der vielen argentinischen Fan-Kolonien hüpften sie mit nacktem Oberkörper und dem Trikot als Lasso in der Hand zur Melodie der Choräle von den Rängen, die diese WM so dröhnen: „Brasilien, sag mir, was du fühlst. Deinen Papa zu Hause zu haben. Ich schwöre, selbst wenn die Jahre ins Land ziehen, werden wir nie vergessen, dass Diego dich ausgedribbelt hat, dass Canniggia dich geimpft hat, dass du seit Italien bis heute weinst. Messi werdet ihr sehen, den Pokal werden wir holen. Und Maradona ist größer als Pele.“

Dass Brasilien bei der WM im eigenen Land schon mal um eine Runde überlebt wurde, dass es nun im Heiligtum des Erzrivalen, dem Maracana, um den Pokal geht, verleiht der ganzen Angelegenheit aus argentinischer Sicht natürlich besonderen Charme. Dass zu Hause die x-te Krise herrscht und die Gesandtschaft zur globalen Fußball-Messe wie keine andere von Unglücken heimgesucht wurde – in der Nacht vor dem Spiel verlor bereits der zweite argentinische Journalist bei einem Verkehrsunfall das Leben –, machte den Finaleinzug noch heroischer. Aber in erster Linie ging es um eine Versöhnung mit der Geschichte. Wie der überragende Javier Mascherano später sagen sollte: „Die ganzen Jahre über haben wir viele Dinge gesehen, aber nicht das Licht.“ In São Paulo strahlte es wieder.

24 Jahre sind für eine so fußballverrückte Nation wie Argentinien eine unerträglich lange Zeit. 24 Jahre lang war die „Albiceleste“ in der Regel als Favorit zur WM gereist und hatte oft mit den besten Fußball gespielt. Aber 24 Jahre lang hatte sie kein Finale mehr erreicht. „Wir sind wieder da“, sagte Mascherano mit all dem Pathos, das den Fußball in Argentinien so einmalig macht: „Vor den Augen der Welt wird unsere Fahne wieder bei einem Endspiel um die Weltmeisterschaft glänzen.“ Womöglich wollte überhaupt kein anderer der 32 Teilnehmer dieses Finale so sehr. Und deshalb ist den Argentiniern auch so egal, auf welche Weise sie es erreichten.

Das Spektakel, das von dieser Elf wegen Messi und der anderen Starangreifer erwartet wird, gab es gegen Holland nicht zu sehen. Wieder nicht. Weniger denn je. Argentinien war während des tor- und erschreckend ereignislosen Remis die etwas bessere Mannschaft, aber sie zeichnete sich aus durch Ordnung, Kontrolle, Solidarität. Die Basis des Erfolgs ist die im Vorfeld belächelte Defensive, die von Spiel zu Spiel immer weniger Torchancen zulässt. Eine einzige war es gegen die im vorherigen Turnierverlauf offensiv so produktive Niederlande, doch der omnipräsente Abräumer Mascherano spitzelte dem einschussbereiten Arjen Robben mit dem Ende der regulären Spielzeit gerade noch den Ball vom Fuß. „Er war genau pünktlich mit seiner Grätsche“, sagte Robben.

Die Argentinier reden nicht gerne über das letzte Duell gegen Deutschland

Ist Argentinien ein Vergnügen für neutrale Zuschauer? Nein. Ist es deshalb eine schlechte Fußballmannschaft? Gewiss nicht. „Hier ist eine außergewöhnliche Gruppe zusammengewachsen“, sagte Sabella nach der Partie. Deutschland wird sich einer Mannschaft gegenübersehen, die sich darauf versteht, dem Gegner wenig Platz zu geben, getreu der Maxime ihres Trainers: „Wer die Räume besser besetzt, gewinnt.“ Deutschland, so Sabella, sei dafür im bisherigen Turnierverlauf im Übrigen der beste Beweis.

Passion, Willen, Siegermentalität – auch das wird Argentinien in die Waagschale zu werfen versuchen. Die Tugenden, mit denen es Deutschland ins WM-Finale 1986 schaffte, wo es Maradonas Argentinien beinahe den Titel entrissen hätte. Es folgte die Revanche 1990 und zwei Viertelfinalsiege für die Deutschen. Minimal im Elfmeterschießen 2006, überwältigend beim 4:0 vor vier Jahren. Es war das letzte Spiel für Diego Maradona als Trainer.

Darüber sprachen die Argentinier in der Nacht nicht so gern. Den heutigen Deutschen zollten sie Respekt, wollten es dabei aber auch belassen. „Wir haben ihre erste Halbzeit gegen Brasilien gesehen“, berichtete Martin Demichelis, der Ex-Bayern-Abwehrmann. „Aber das ist ja wohl kaum eine Partie, die wir als repräsentativ nehmen können, bei sieben Toren in einem WM-Halbfinale.“ Außenverteidiger Pablo Zabaleta ergänzte: „Natürlich treffen wir auf eine der besten Mannschaften dieses Turniers, aber ich denke, auch sie werden uns mit einer gewissen Sorge begegnen. Sie wissen, dass wir ein Team haben mit viel Hingabe, wo jeder füreinander da ist und das vorn wichtige Spieler hat, die jederzeit ein Spiel entscheiden können.“

Insbesondere der viermalige Weltfußballer Lionel Messi, der sein erstes WM-Finale bestreitet. „Was für ein Wahnsinn“, schrieb der 27-Jährige in sein Facebook-Profil. „Ich fühle Stolz, Teil dieser Gruppe zu sein. Was sind das alles für Phänomene! Was für eine Partie haben sie gespielt!“, kommentierte der vierfache Turniertorschütze, der in den K.-o.-Runden aber noch ohne Torerfolg ist.

Deutschland geht als Favorit in das Finale, fußballerisch allemal. „Sie spielen fabelhaft, sie haben Technik, Kraft und Spielkultur“, sagte Mascherano. Sie haben außerdem „einen Tag mehr Vorbereitung und eine Verlängerung weniger“ in den Beinen, wie Trainer Sabella hervorhob. Argentinien will dem all seine Begeisterung entgegensetzen, sein Wissen um das so lang vermisste Glück des Augenblicks. „Es ist das wichtigste Spiel unserer Karriere“, sagte Mascherano. „Es ist das Finale.“