Deutschland steht dicht vor dem vierten WM-Triumph. Die Geschichte der bisherigen Siege hat viel mit Geistern zu tun. Auch in diesem Jahr.

Hamburg. Per Mertesacker hat das Wort benutzt. Bastian Schweinsteiger hat es benutzt. Und Joachim Löw, der hat es immer und immer wieder benutzt. Teamgeist. Das Schlüsselwort des Erfolgs. Deutschland steht im Finale der Fußball-WM 2014, und das Geheimnis, so sagen sie unisono, sei dieser Geist. „Es herrscht ein unglaublicher Teamspirit“, sagt der Bundestrainer zur Atmosphäre im deutschen Lager.

Löw, so viel ist klar, hat gelernt. Der Einzug in das Endspiel von Brasilien resultiert auch aus einem Fehler, den der Bundestrainer bei der EM 2012 gemacht hat. Nicht der taktische im Halbfinale gegen Italien, das 0:2 verloren ging. Es war der Fehler, dass Löw es nicht schaffte, den nötigen Teamgeist zu beschwören, wie sich erst im Nachhinein herausstellte. Bastian Schweinsteiger war der Erste, der nach der EM fehlende Geschlossenheit bemängelte.

Per Mertesacker hat das nun in Brasilien noch einmal bestätigt. „An diesem Teamgeist“, wie der Innenverteidiger die Stimmung in der deutschen Mannschaft beschreibt, „hat es in der Vergangenheit ab und an gehapert“. Mertesacker und Schweinsteiger meinen explizit das Verhalten der Ersatzspieler, die bei Toren der eigenen Mannschaft 2012 nur verhalten gejubelt hätten.

Nun sei alles anders. „Was ich auf der Bank erlebt habe, war sensationell“, sagte Mertesacker schon nach dem Sieg gegen Frankreich. „Ich habe den Teamgeist aus einer anderen Perspektive erlebt. Wir wollen uns das beibehalten, am besten bis zum Ende. So muss das sein, anders haben wir keine Chance.“

Gegen Brasilien war der neue Geist wieder ein Schlüssel zum Sieg. Sollte Deutschland am Sonntag den ersehnten WM-Titel gewinnen, könnte er namentlich als „Geist von Bahia“ in die deutsche Fußballgeschichte eingehen. Campo Bahia heißt das Quartier, in dem sich der DFB-Tross seit dem 8. Juni auf das große Ziel einschwört. Mit Tischtennis, Boule und Kartenspielen. Mit Strandspaziergängen und kollektivem Planschen im Meer. Und vor allem mit den Fünfmann-WGs.

Die Idee von Teammanager Oliver Bierhoff könnte die entscheidende Stellschraube sein, an der Löw und sein Stab gedreht haben. Selten zuvor sah man die deutsche Nationalmannschaft in der Ära Löw so geschlossen auftreten wie bei dieser WM. Der Teamgeist erinnert an die bisherigen WM-Titel Deutschlands. Es ist auch die Geschichte der Geister. Ein Geistermärchen.

Der „Geist von Spiez“ ist die Mutter aller Geister. 1954 war das. Deutschland, noch schwer geschlagen vom Zweiten Weltkrieg, reiste als krasser Außenseiter zur WM in die Schweiz. Talentierte Spieler wie Fritz Walter, Hans Schäfer und Helmut Rahn hatte Trainer Sepp Herberger zwar genug, doch wie diese als Mannschaft funktionierten, zeigte sich beim 3:8 in der Vorrunde gegen Titelfavorit Ungarn.

Der Legende nach entstand der Zusammenhalt im Hotel Belvédère in Spiez am Thunersee, wo die Mannschaft während der WM wohnte. Schon hier sollen es die Tischtennisrunden und gemeinsame Bootsfahrten gewesen sein, die aus einem Haufen von Individualisten eine Gemeinschaft gemacht haben. Horst Eckel, neben Schäfer der einzig noch lebende Weltmeister von 54, sagte am Sonntag, auf den Tag genau 60 Jahre nach dem 3:2-Finalsieg gegen Ungarn: „Für Herberger war es wichtig, dass nicht die einzelnen Spieler groß rauskommen, sondern dass die Mannschaft die Ziele erreicht.“ Der „Geist von Spiez“ mündete im „Wunder von Bern“, dem ersten deutschen WM-Sieg.

20 Jahre später sollte es wieder ein Geist sein. Der Trainer hieß nun Helmut Schön und die Spieler Franz Beckenbauer, Uli Hoeneß, Wolfgang Overath, Gerd Müller. Und der Geist, er hieß „Geist von Malente“. In der drögen Sportschule des 10.000-Einwohner-Ortes in Schleswig-Holstein bezogen die Deutschen während der Heim-WM ihr Trainingsquartier. Hier sollte sich das zerstrittene Ensemble nur auf Fußball konzentrieren. Dieser Plan ging zunächst gründlich daneben. Nächtliche Ausflüge zu den Spielerfrauen nach Hamburg gehörten ebenso zu Malente wie die Krisennacht nach dem 0:1 gegen die DDR, als es zwischen Beckenbauer und Schön sehr laut geworden sein soll. Am Ende rauften sich die Deutschen aber für das große Ziel zusammen. Das 2:1 gegen die Niederlande im Finale von München bedeutete Titel Nummer zwei.

1990, nun mit Franz Beckenbauer in der Trainerrolle, sollte in Italien der dritte Streich folgen. Aus dem noblen WM-Quartier am Comer See wurde zwar nie ein spezieller Geist überliefert, doch von der guten Stimmung im deutschen Team schwärmen die Beteiligten noch heute. „Die ganze Region hat uns Kraft gegeben, um später Weltmeister zu werden“, sagte Teamchef Beckenbauer, der es auch mithilfe des Torwarttrainer-Spaßvogels Sepp Maier schaffte, die späteren Streithähne Lothar Matthäus und Jürgen Klinsmann für ihr Ziel zu vereinen.

24 Jahre nach dem 1:0-Sieg gegen Argentinien im Rom hat die deutsche Nationalmannschaft den vierten Titel dicht vor Augen. Der „Geist von Bahia“ nimmt immer konkretere Formen an.