Jérôme Boateng über den Ausfall von Neymar, SMS-Nachrichten von Dante und sein Faible für die Seleção mit Ronaldo, Ronaldinho und Rivaldo

Santo André. Als Jérôme Boateng auf die Terrasse des Costa Brasilis schlurft, muss die Frage erlaubt sein: Was er den ganzen Tag hinter dem Zaun im Campo Bahia mache? „Langweilig wird mir nicht“, antwortet der frühere HSV-Profi. „Ich lese, spiele Playstation oder Tischtennis.“ Dann schaut er zu Manuel Neuer hinüber, der einen Tisch weiter Platz genommen hat. „Gegen Manu habe ich noch nicht gespielt, aber er soll gut im Tischtennis sein. Aber der hat ja auch ewig lange Arme.“

Hamburger Abendblatt: Herr Boateng, an diesem Dienstag treffen Sie im WM-Halbfinale wahrscheinlich auf Ihren Kumpel Dante. Darf man fragen, ob Sie vor dem Spiel noch Kontakt hatten?
Jérôme Boateng: Wir hatten eigentlich das ganze Turnier über Kontakt. Er hat mir ein, zwei Videos geschickt, ich habe ihm ein paar Nachrichten zurückgeschickt. Aber direkt vor dem Spiel werden wir das wohl einstellen. Für ihn ist es ja das erste Spiel bei diesem Turnier. Und es ist bestimmt nicht so einfach, von null auf hundert in ein Halbfinale einzusteigen.

Gibt es einen Favoriten?
Boateng: Brasilien hat sicherlich mehr Druck als wir. Wir machen uns nur selbst Druck, weil wir unbedingt ins Finale wollen. Bei Brasilien kommt noch der Druck von außen dazu. In Brasilien muss die Seleção nicht nur gewinnen, sie muss auch noch schön spielen. Aber heutzutage geht es nicht mehr so einfach wie früher. Nicht mal für Brasilien.

Brasilien ist bislang durch ein ziemlich hartes Auftreten aufgefallen.
Boateng: Das habe ich auch beobachtet. Brasilien ist nicht mehr das Brasilien von früher, das alles spielerisch und technisch löst. Früher, als Ronaldo, Ronaldinho und Rivaldo noch gespielt haben, musste man einfach Brasilien-Fan sein. Ich bin da sogar nachts aufgestanden, um Spiele von ihnen zu schauen. Das war erste Sahne. Besonders Ronaldo fand ich immer klasse. Er war der beste Stürmer von allen. Echt schade, dass er so früh aufhören musste. Heute überzeugen die Brasilianer eher in der Defensive, gehen richtig zur Sache.

Täuscht der Eindruck oder geht es bei dieser WM tatsächlich härter zu?
Boateng: Bei unseren Spielen hatte ich nicht den Eindruck. Aber insgesamt gab es schon ein paar harte Fouls. Allerdings ist es ja auch klar, dass Spieler wie Messi, Neymar oder Robben eher mal auf die Socken bekommen. Trotzdem glaube ich nicht, dass ein Spieler einen anderen vorsätzlich verletzen wollte.

Brasilien muss auf Neymar verzichten.
Boateng: Es ist extrem bitter für ihn. Neymar hat lange auf dieses Turnier hingearbeitet und hat hier gezeigt, dass er dem Druck standgehalten hat.

Nun soll Fred die Tore schießen...
Boateng: In Brasilien sagt man ja, dass Fred nicht der Torjäger ist, den sie sich hier wünschen. Aber er ist ein Schlitzohr, wartet immer auf seine Chance.

Neymar wird er aber nicht ersetzen können. Befremdet Sie so viel Rummel um eine einzelne Person?
Boateng: Wahrscheinlich gehört das heute dazu. Früher war das anders, da hatte Brasilien eine ganze Reihe von Topstars. Nun war eben alles auf Neymar fokussiert. Aber ich hätte wirklich gern gegen ihn gespielt, weil ich immer gern gegen die Besten spiele.

Sie haben mal gesagt, dass Messi der Allerbeste sei. Gegen den könnten Sie dann ja immer noch im Finale spielen.
Boateng: Messi ist der Beste, ganz klar. Aber Argentinien muss ja auch erst einmal ins Finale kommen. Gegen Holland wird es sicherlich nicht so einfach.

Können Sie sich erinnern, wo und wie Sie das bislang einzige deutsch-brasilianische WM-Duell 2002 geschaut haben?
Boateng: Klar. Das habe ich zu Hause in Berlin geschaut. Ich weiß noch, dass es extrem bitter war, weil Deutschland eigentlich recht gut gespielt hat. Vor allem Oliver Neuville hatte eine super Chance. Aber am Ende wurde das Spiel nach einem Torwartfehler von Oliver Kahn entschieden.

Damals war Brasilien klarer Favorit...
Boateng: ...und heute sind wir auf Augenhöhe. Obwohl das ganze Stadion gegen uns sein wird. Aber es wird ein tolles Erlebnis werden.

Sie werden sicher in der ersten Elf stehen. Gefällt Ihnen diese Wertschätzung?
Boateng: Klar gefällt mir das. Aber ich habe mir meinen Platz auch sehr hart erarbeitet. Und eigentlich habe ich diese Wertschätzung ja schon immer gespürt. Vor zwei Jahren habe ich bei der EM gespielt. Und auch 2010, als ich noch sehr jung war, war ich vom zweiten Spiel an immer dabei.

Was unterscheidet den jungen Jérôme von 2010 vom älteren Boateng 2014?
Boateng: Ich bin reifer geworden. Ein Jahr lang war ich in England, habe da viel gelernt. Dann habe ich mich beim FC Bayern weiterentwickelt.

Wie genau?
Boateng: Ich bin viel ruhiger am Ball geworden. Mein Stellungsspiel ist besser als früher, auch mein Kopfballspiel. Ich habe schon viel von Jupp Heynckes und Pep Guardiola bei den Bayern gelernt.

Kann man Guardiola und Bundestrainer Joachim Löw vergleichen?
Boateng: Beide legen Wert auf Ballbesitz und technisch anspruchsvollen Fußball. Man kann schon sagen, dass sie den gleichen Fußball mögen, auch wenn ihre Arbeitsweise eine andere ist.

Inwiefern?
Boateng: Bei Bayern machen wir alles mit dem Ball, das ist im Nationalteam nicht so. Löw und Guardiola setzen andere Trainingsschwerpunkte.

Löw setzt in Brasilien auffällig auf eine stabilere Abwehr als früher. Wie kam der Sinneswandel?
Boateng: Wir haben in der Vergangenheit zu viele Gegentore bekommen, auch bei Freundschaftsspielen. Zudem wollten wir gerade bei diesen heißen Temperaturen in Brasilien unter keinen Umständen in Rückstand geraten.

Hat der Bundestrainer Ihnen schon verraten, ob Sie wieder in der Innenverteidigung neben Mats Hummels spielen?
Boateng: Nein, wir erfahren das erst kurz vor dem Spiel, damit auch Sie das später erfahren. Früher stand die Aufstellung oft zu früh in den Zeitungen. Deswegen machen wir das jetzt anders.

Ist das nicht ein Nachteil, erst kurz vor dem Spiel zu erfahren, ob und wo man spielen darf?
Boateng: Das ist sicherlich von Spieler zu Spieler unterschiedlich. Der eine braucht die Gewissheit. Der andere braucht vielleicht die Anspannung.

Wurde schon mal über ein mögliches Elfmeterschießen gesprochen?
Boateng: Ich würde schon Verantwortung übernehmen. Es gibt Offensivspieler, die eine bessere Technik als ich haben. Aber wenn die durch sind, dann würde ich schon gerne schießen.

Können Sie sich noch an Ihren letzten Elfmeter erinnern?
Boateng: Nein, eigentlich nicht.

2009 haben Sie beim Pokalhalbfinale mit dem HSV gegen Werder verschossen. Bremen hat am Ende 4:2 gewonnen.
Boateng: Kein Wunder, dass ich das vergessen habe.

Warum sind Sie trotz ihrer Größe bei Standards nie vorne mit dabei?
Boateng: Ich würde auch gerne mal nach vorne. Aber mit Mats Hummels, Per Mertesacker und Benedikt Höwedes haben wir ja ziemlich kopfballstarke Jungs vorne drin. Und der Trainer will dann auch einen etwas schnelleren Spieler noch hinten haben.

Kann es sein, dass Sie mit den Jahren sogar noch schneller geworden sind?
Boateng: Gemessen habe ich das nicht. Aber ich habe an meiner Schnelligkeit gearbeitet. Nach meiner Knieoperation in Manchester habe ich mein Training umgestellt. Ich habe mehr auf meine Beine geachtet, mache da auch mit Bayerns Fitnesstrainern ein bisschen was.