Bastian Schweinsteiger und Philipp Lahm scheiterten in zwei WM-Halbfinals seit 2006. Nun soll endlich der Titel her. Er würde ihre Ära krönen

Santo André. Erinnerungen heften sich an Bilder. Sie werden zu Ikonen der Vergangenheit und verdichten Geschichte. Bei Bastian Schweinsteiger ist es dieses: Er trägt einen Cowboyhut in Schwarz, Rot und Gold. Er steht auf dem Spielfeld der Arena von Stuttgart und jubelt mit seinen Teamkollegen der deutschen Nationalmannschaft über den dritten Rang bei der WM 2006 in Deutschland. Wenige Augenblicke zuvor, in der 78. Minute im Spiel um Platz drei gegen Portugal, traf Schweinsteiger zum 3:0 gegen die Iberer. Ein satter Fernschuss mit rechts, vorbereitet durch ein Dribbling über links.

Ein anderes Bild jener Geschichte von 2006 mutet ähnlich an – diesmal ist Philipp Lahm das Motiv. Der kleine Münchner, damals noch Linksverteidiger, trägt eine Manschette am Arm, als er in der 6. Minute gegen Costa Rica von links außen an die Strafraumgrenze dribbelt und den Ball in den rechten Winkel schlenzt. Es ist das 1:0 im Eröffnungsspiel der Heim-WM in München.

Zwei Spieler, zwei Tore, zwei Ikonen des Sommermärchens von 2006. Der Ausgangs- und der Endpunkt jenes identitätsstiftenden Turniers für den deutschen Fußball der jüngeren Zeit.

Seit diesen glückseligen Tagen sind acht Jahre vergangen. Schweinsteiger und Lahm sind immer noch da. Zusammen mit Lukas Podolski, Miroslav Klose und Per Mertesacker sind sie bei der WM in Brasilien die letzten Überlebenden der Generation Sommermärchen im deutschen Team. Einschließlich 2006 standen sie zweimal in einem WM-Halbfinale. Zweimal verloren sie – gegen Italien 2006 und gegen Spanien 2010. Nun also stehen sie erneut in der Runde der letzten vier. Gegen Brasilien am Dienstag (22 Uhr/ZDF) in Belo Horizonte bietet sich für sie die Chance, erstmals das WM-Finale zu erreichen.

„Gegen den Gastgeber zu spielen ist eine große Herausforderung für uns“, sagt Schweinsteiger. Das ganze Stadion werde gegen sein Team sein, ja sogar dasganze Land. „Aber solche Spiele machen besonders Spaß. Das saugt man als erfahrener Spieler auf.“ Dass Brasiliens Superstar Neymar verletzt fehlen wird, sei traurig: „Große Spieler wie er müssen einfach in großen Spielen auf dem Platz stehen“, sagt Schweinsteiger.

Dass es für ihn selbst, Lahm und die Übriggebliebenen der Generation Sommermärchen auf Nationalmannschaftsebene noch viele solcher großen Spiele geben wird, ist eher unwahrscheinlich. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist diese WM für sie die letzte Gelegenheit auf den wichtigsten Titel in ihrem Sport. 2006 waren sie Anfang 20.

Nun sind sie Ende 20, Anfang 30. Beim nächsten Weltturnier in Russland im Jahr 2018 werden sie Mitte 30 sein – das Rentenalter eines Fußballers. Die Wahrscheinlichkeit ist also hoch, dass sie dann die WM von der Couch aus verfolgen werden. Wie ihre beiden Tore für die Heim-WM könnten daher beide Turniere, 2006 und nun 2014, für Lahm und Schweinsteiger zum Anfangs- und Endpunkt ihrer WM-Karrieren werden.

Schweinsteiger aber will davon überhaupt nichts wissen. Im August wird er 30 Jahre alt, aber seine letzte WM müsse das dennoch nicht unbedingt sein. „Ich bin noch 29 und kann noch eine weitere spielen, wenn alles so funktioniert, wie ich es mir vorstelle.“ Lahm dagegen sieht das anders: „Ich bin mir bewusst, dass es sein kann, dass dies meine letzte WM ist“, sagt er. „Deshalb will ich alles, was ich habe, in die Waagschale werfen und noch fokussierter sein.“

Für den 30 Jahre alten deutschen Kapitän war der WM-Titel immer eine Obsession, seit er im Alter von sechs Jahren Deutschlands Gewinn des goldenen Pokals 1990 in Italien verfolgte. „Das war das erste Turnier, das ich bewusst miterlebt habe“, sagt Lahm. Es könnte sogar sein, dass er seiner Familie im Münchner Stadtteil Gern, in dem er zusammen mit der Schwester, den Eltern, Großeltern, Onkel und Tante in einem Haus aufwuchs, ziemlich auf die Nerven gefallen ist.

„Ich habe mir diese WM mindestens 100-mal auf Video angeschaut“, erzählt Lahm. Wie Andreas Brehme den Elfmeter zum 1:0-Sieg gegen Argentinien im Finale verwandelte. Wie Lothar Matthäus den Pokal in den Römer Abendhimmel stemmte, wie anschließend die ganze Mannschaft feierte. „Wenn wir Weltmeister werden, lassen wir es auch krachen“, versprach Lahm.

Für Lahm und Schweinsteiger bietet sich nun die historische Chance, nach 24 Jahren für Deutschland wieder einen WM-Titel zu gewinnen, und ähnlich freudentrunkene Bilder im kollektiven Bewusstsein zu verankern, wie es 1990 der Auswahl von Franz Beckenbauer gelang. Der Titel würde ihre Ära vergolden. Aus der Generation Sommermärchen entstünde im Rückblick die Goldene Generation.

Aber wie das so ist mit derlei Gelegenheiten, schlummert in ihnen auch die Gefahr großer Ernüchterung. Sollte erneut das Halbfinale verloren, sollte erneut der Titel verpasst werden, wäre auch eine historische Chance vertan. Die verheißungsvollen Jahrgänge der 83er, 84er und 85er würden wohl titellos bleiben, obwohl sie seit 2006 fünfmal mindestens im Halbfinale eines Turniers standen.

Schweinsteiger glaubt, dass es diesmal für den Titel reichen kann: „Die Mannschaft ist einen Schritt weiter als noch bei der WM 2010. Jeder einzelne Spieler hat Erfahrungen in großen Spielen gesammelt, und es sind neue, talentierte Spieler dazugekommen“, sagt der Mittelfeldlenker vom FC Bayern München. Dazu sei auffällig, dass der Teamgeist ein besonderer sei.

Die Debatte um Lahms Position im Zentrum oder in der Viererkette hat ihn irritiert. „Das Kollektiv ist wichtig. Und als Kollektiv haben wir bisher gute Arbeit gemacht“, sagt Schweinsteiger. Gegen Brasilien wird er wohl erneut im zentralen Mittelfeld neben Sami Khedira auflaufen – Lahm bliebe damit auf rechts in der Abwehrreihe.

Bundestrainer Joachim Löw hat diesbezüglich Pragmatismus bewiesen, um sein großes Ziel WM-Titel zu erreichen. Auch der 54-Jährige ist ja als Trainer Teil jener Generation Sommermärchen. Als Assistent und taktischer Vordenker unter Bundestrainer Jürgen Klinsmann hatte er maßgeblichen Anteil am Erfolg 2006. In der Folge führte er das Team als Cheftrainer nun zum zweiten Mal dicht heran an den WM-Titel. Auch für ihn klammern beide Turniere 2006 und 2014 wohl seine Karriere in der Nationalmannschaft. Gewinnt er den Titel, wird er wohl trotz Vertrages bis 2016 aufhören. Verpasst er ihn erneut, ist ein Weitermachen ebenfalls kaum denkbar. 2006 war der Anfangs-, 2014 wohl der Endpunkt seiner Ära. Eine Ära, die zur goldenen werden kann.