Zum Elfmeterschießen gegen Costa Rica wechselt Niederlande-Coach van Gaal seinen Ersatztorhüter ein – und siegt

Salvador. Und dann wechselte Louis van Gaal noch den Torwart. Alles hatten die Niederlande probiert, Latte und Pfosten getroffen oder irgendein Körperteil des überragenden Keylor Navas. Wie bloß sollte man Costa Ricas Keeper im anstehenden Elfmeterschießen etwas entgegensetzen? Es brauchte etwas Großes, etwas Kühnes.

Van Gaal hat allein bei dieser WM schon so viele Spiele durch Coaching gewonnen wie andere Trainer in ihrer ganzen Karriere. Zum Auftakt verblüffte der Bondscoach die Spanier beim 5:1 mit seinem unholländischen 3-5-2-System. Gegen Chile (2:0) sagte er dem Team voraus, dass es das Spiel in den letzten 20 Minuten gewinnen würde. Im Achtelfinale gegen Mexiko (2:1) nutzte er beim Stand von 0:1 die Trinkpause eine Viertelstunde vor Schluss, um wie ein Basketballtrainer bei einer Auszeit die nächsten Spielzüge anzusagen. Und jetzt wechselte er also den Torwart. Eingebung? Ja und nein. Nicht spontan. „Wir“, sagte van Gaal, „haben das schon lange vorher geplant.“ Bereits im Trainingslager habe er mit Tim Krul die Sache besprochen, hieß es in den Katakomben der Arena Fonte Nova von Salvador. „Er musste ja vorbereitet sein“, so van Gaal. „Jeder Spieler in meinem Kader hat bestimmte Qualitäten. Wir hatten das Gefühl, dass er der geeignetere Torwart ist.“

Jasper Cillessen allerdings teilte diese Einschätzung offenbar nicht. Der Stammkeeper von Ajax Amsterdam hatte noch in der 117. Minute die beste Torchance Costa Ricas im ganzen Spiel entschärft. Plötzlich sah er am Seitenrand seine Nummer aufleuchten. Wütend stapfte er vom Feld und trat am Seitenrand noch eine Flasche um. Cillessen wusste nichts von dem Plan. Cillessen konnte auch nichts wissen von dem Plan. Denn, so erklärte van Gaal: „Wir haben Cillessen nichts gesagt.“

Wie exakt es der Bondscoach geschafft hat, mit Krul Elfmeter zu trainieren, ohne dass Cillessen davon etwas mitbekam, war in der Nacht noch lange Gegenstand von Debatten. Regelmäßige Beobachter von Hollands Trainingseinheiten gehen davon aus, dass er mit Cillessen eine Variante einstudierte und mit Krul die andere. Zugegeben, es wird allmählich kompliziert. Aber die Sache ist ja mit dem Wechsel an sich noch lange nicht komplett. Van Gaal sagte dem Elfmetertöter seines Vertrauens auch voraus, wohin die Costa Ricaner schießen würden. Nämlich nach rechts. Dorthin, wo die Mehrheit der Mittelamerikaner dann auch einzuschießen versuchte. Obwohl sie voriges Wochenende im gewonnenen Achtelfinale gegen Griechenland noch in derselben Mehrheit nach links geschossen hatten.

Krul, der in der englischen Premier League für Newcastle United spielt, sprang viermal in die rechte Ecke. Er hielt den zweiten Elfmeter und den fünften. Holland traf alle und steht deshalb im Halbfinale gegen Argentinien. Und van Gaal sagte: „Wir sind alle ein kleines bisschen stolz darauf, dass dieser Trick uns weitergebracht hat.“

Der Trick. Womit auch die dritte Komponente des Wechselspiels genannt wäre. Costa Rica, das sich als krasser Underdog ins Elfmeterschießen gekämpft hatte und somit psychologisch im Vorteil schien, bekam noch einmal etwas zum Nachdenken. Das Momentum war nicht mehr so klar auf der Seite der Mittelamerikaner. Für alle Fälle half Krul auch noch mit einer ordentlichen Portion Trashtalk und sogar mit Zupfen am Trikot der Schützen nach; eine Unsitte, die den Kapitän der eigenen Nationalelf, Robin van Persie, in einer Premier-League-Partie zwischen Manchester United und Newcastle einmal so zur Weißglut gebracht hatte, dass sich beide im Spielertunnel danach an die Gurgel gingen. Alles in allem müssen Costa Ricas Spieler in dem 26-Jährigen also einen schier unüberwindbaren Riesen gesehen haben. Extra fürs Elfmeterschießen eingewechselt. Offenbar ein Experte, bis hin zu seinen Provokationen. Was sie wahrscheinlich nicht wussten: Tim Krul hatte in den letzten fünf Jahren von 20 Elfmetern gerade mal zwei gehalten.

Der große Clou des Louis van Gaal – die Mittelamerikaner, stolz über ihre historische WM, in der sie in fünf Spielen ungeschlagen blieben, nahmen es sportlich. „Clever, gut gemacht“, sagte Celso Borges, einer der drei Schützen, die getroffen hatten. Auch Christian Bolanos hatte die Nerven behalten, er ergänzte: „Das war brillant von ihrem Trainer. Das ist, warum der Fußball so großartig ist.“

Der Eindruck ist schon richtig: Die Costa Ricaner verlassen Brasilien ohne Trauer oder gar Wut, auch nicht über Kruls Psychospielchen, die möglicherweise eine nachträgliche Untersuchung der Fifa zur Folge haben. Delia Fischer, Sprecherin des Weltverbands, sagte, man werde den offiziellen Spielbericht abwarten. „So etwas gibt es im Fußball, es ist erlaubt, und wenn es erlaubt ist, kann man es auch machen“, sagte Keylor Navas. Den Trick mit dem Torwartwechsel habe er schon mal in einem Spiel in Costa Rica gesehen, zwischen Deportivo Saprissa und Alajuelense, einem Prestigeduell. Aber das ist schon so lange her, dass er nicht mal mehr wusste, wer gewonnen hat.

Nur Trainer Jorge Luis Pinto, 61 und selbst als einer bekannt, der jede Eventualität vorausplant, wollte dem Manöver seines ein Jahr älteren Kollegen keine entscheidende Wirkung zugestehen. „Ich muss dieses Vorgehen akzeptieren, aber ich habe es auf der ganzen Welt noch nicht gesehen“, sagte er. Womit immerhin erwiesen wäre, dass er nicht zu den regelmäßigen Konsumenten des DFB-Pokals gehört.

Dort wechselte Hans Meyer vor sieben Jahren beim 1. FC Nürnberg in einem Spiel gegen Hannover mal Ersatzmann Daniel Klewer zum Elfmeterschießen ein und gewann dieses prompt – am Ende holte der „Club“ sogar den Titel. „Wenn es nicht funktioniert hätte, dann hätte ich die falsche Entscheidung getroffen“, sagte van Gaal. „So läuft es nun mal im Fußball.“

Aber van Gaal trifft eben selten falsche Entscheidungen, schon gar nicht bei dieser WM. Auch Cillessen verzieh seinem Trainer schnell. Auch er ist ja jetzt WM-Halbfinalist. „Ist das ein persönlicher Triumph für Sie?“, wurde van Gaal gefragt. Da schaute der Bondscoach streng in die Runde: „Habe ich den denn nötig?“

Niederlande: Cillessen (120.+1 Krul) – de Vrij, Vlaar, Martins Indi (106. Huntelaar) – Kuyt, Blind – Wijnaldum, Sneijder – Robben, van Persie, Depay. Costa Rica: Navas – Gamboa (79. Myrie), Acosta, Gonzalez, Umana, Diaz – Tejeda (97. Cubero), Borges – Ruiz, Bolanos – Campbell (66. Urena). Schiedsrichter: Irmatow (Usbekistan). Zuschauer: 51.179. Elfmeterschießen: 0:1 Borges, 1:1 van Persie, Krul hält gegen Ruiz, 2:1 Robben, 2:2 Gonzalez, 3:2 Sneijder, 3:3 Bolanos, 4:3 Kuyt, Krul hält gegen Umana. Gelbe Karten: Martins Indi, Huntelaar – Diaz, Umana, Gonzalez, Acosta.