Heute vor 60 Jahren wurde die deutsche Fußballnationalmannschaft Weltmeister: das „Wunder von Bern“. Mit dabei war Horst Eckel, den wir bei einem Besuch in der Schweiz begleitet haben.

Manchmal ist es etwas beschwerlich, Weltmeister zu sein. Zum vierten Mal muss sich Horst Eckel an diesem sonnigen Tag in der Schweiz von seinem Platz erheben. Kurze Verbeugung, Lächeln, die Hände zu einem angedeuteten Handshake geformt – diesmal ist es ein Hoteldirektor, der sich „wahnsinnig freut“, den Gast aus Deutschland begrüßen zu dürfen, ansonsten sind es Tourismusmanager, Bürgermeister, Verbandsvertreter. Für sie alle ist dieser Horst Eckel, am 8. Februar 1932 in Vogelbach geboren, als Verbindungsglied zwischen Geschichte und Zukunft Gold wert.

Er und Hans Schäfer, dem es derzeit nicht so gut geht, sind die letzten beiden Überlebenden der legendären Weltmeistermannschaft von Trainer Sepp Herberger, jener Truppe also, der am 4. Juli 1954 gegen die hoch favorisierten Ungarn durch einen 3:2-Sieg im Endspiel das „Wunder von Bern“ gelang. Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen, Rahn schießt, Tor, Tor, Tor – und Deutschland hatte neun Jahre nach dem Kriegsende wieder eine Ahnung davon, wie es ist, doch nicht für immer Verlierer sein zu müssen.

Keine Fußball-WM hatte in Deutschland größeren Nachhall in allen Bevölkerungsschichten als diese, auch wenn derzeit wieder alle TV-Rekorde gebrochen werden. Noch heute wird bei Regen vom Fritz-Walter-Wetter gesprochen und auf vielen deutschen Sportplätzen wird nach Toren der ekstatische Jubel von Herbert Zimmermann nach dem 3:2 eingespielt. Seine Schilderung des Finales ist längst Kulturgut. 2003 wurde das „Wunder von Bern“ verfilmt, in Hamburg feiert noch in diesem Herbst in dem neuen Theater an der Elbe das Fußballwunder-Musical Premiere. Horst Eckel hat seine Einladung schon.

Der 82-Jährige ist bis heute Wunder-Repräsentant

Der 82-Jährige wird auch kommen, das kann schon heute als sicher gelten; er ist bei robuster Gesundheit, er ist weit weg von jeder Altersdepression, er ist schlicht gut drauf. Damals, als den Spieler des 1. FC Kaiserslautern außerhalb der Pfalz nur wenige kannten, war er einer der jüngsten Spieler im Team, Spitzname „Benjamin“. Er hatte seine feste Rolle als fleißiger Arbeiter im Mittelfeld, und diese hat er mit viel Pflichtgefühl ausgefüllt. Und daran hat sich bis heute nichts geändert; nach dem Tod der Legenden Fritz Walter und Toni Turek und all der anderen ist er der Wunder-Repräsentant.

+++Die historische Abendblatt-Titelseite zum Wunder von Bern als pdf zum Download+++

„Ich mach das ja gern“, sagt er und lächelt über seine doppelte Rinderkraftbrühe hinweg, die den Auftakt zu dem „WM-Menü 1954“ darstellt. Thunerseeforelle, Rinderzwischenrippenstück mit Gemüsen und Streichholzkartoffeln und Vacherin-Eistorte werden noch folgen – der Hoteldirektor des Hotels Belvedere hat im Archiv gekramt und die Speisefolge der Weltmeisterschaftsmannschaft gefunden, die vor 60 Jahren hier in Spiez am Thunersee logiert hat. „Der Geist von Spiez“, das ist auch so eine Geschichte aus jenen Tagen; hier hat sich die Mannschaft gefunden, ein Ort der Konzentration und Ruhe mit wunderschönem Panoramablick über die Schweizer Bergwelt; Interlaken mit dem weltberühmten Dreigestirn Eiger, Mönch, Jungfrau ist um die Ecke.

Eckel teilte sich Zimmer 301 mit Hans Schäfer

In Horst Eckel sind viele Erinnerungen an diese Tage noch sehr präsent. Er spricht ohne übertriebenen Pathos, aber mit viel Verve über jene Wochen, die sein Leben ebenso verändern sollten wie die eines ganzen Landes. „Unser Quartier war dafür wichtig“, sagt er und zeigt auf die kleinen Wellen des Sees, auf denen sich die Restsonne spiegelt. „Hier gab es Ruhe, wir konnten spazieren gehen und schwimmen.“ Er selbst hatte das Zimmer 301 und teilte sich dieses mit Hans Schäfer. Das Zimmer der beiden Überlebenden.

Was sich für heutige Nationalspieler vielleicht etwas überschaubar in der Freizeitgestaltung darstellt, sei für das Team von 1954 der pure Luxus gewesen: „Stellen Sie sich dafür nur vor, wie es zu der Zeit in unserer Heimat Deutschland aussah. Vieles lag noch in Schutt und Asche, die Wiederaufbau lief zwar, aber alles war sehr beschwerlich. Und dann kamen wir in diese wunderschöne, sorgenfreie Umgebung.“ Einige Spielerfrauen seien in einem Hotel auf der anderen Seeseite untergekommen, da habe es auch mal ungenehmigte Rudertouren gegeben; aber ansonsten: Eine Mannschaft hatte ihren Ort und darin sich gefunden.

Reisepakete für Weltmeister-Nostalgiker

Die Tourismusverbände der Gegend haben schnell erkannt, dass in dieser eigentlich uralten Geschichte noch heute großes Potenzial steckt; im internationalen Wettbewerb der Urlaubsregionen reicht es nicht mehr, nur klare Seen und hohe Berge zu haben, zumal die Schweizer durch den hoch bewerteten Franken Schwierigkeiten haben, die deutsche Mittelschicht anzuziehen. Etwas emotionale Aufladung kann da nicht schaden, und die Verbindung von Sport und Nachkriegsgeschichte funktioniert wunderbar. So können Reisepakete gebucht werden, um sich mit Übernachtungen und Ausflügen auf die Spuren der Weltmeistermannschaft zu begeben – das Hotel Belvedere, das es noch heute in gleicher Lage (aber mit neuem Wellnessbereich) gibt, gehört natürlich dazu.

Der „rote Salon“ des Hauses, originalgetreu erhalten, wurde in ein kleines Museum umfunktioniert, noch bis zum 30. September werden dort viele Erinnerungsstücke rund um die WM 1954 gezeigt. Minutenlang verharrt Horst Eckel bei seinem Besuch vor einem Film, der das dramatische Endspiel zeigt. 0:1, 0:2, 1:2; 2:2, aus dem Hintergrund müsste Rahn schon wieder schießen, Rahn schießt, 3:2. Deutschland ist Weltmeister. Dann aber auch die triumphale Rückkehr nach Deutschland in einem Sonderzug mit Stationen in vielen kleinen Orten; Menschen reichen Geschenke durch die offenen Zugfenster, Käse, Blumen, Gehäkeltes. „Das war schon was“, sagt er mit leiser Stimme. Der Film wird in einer Endlosschleife gezeigt, Deutschland wird immer wieder Weltmeister, so wie Horst Eckel für immer einer ist.

Am Thunersee ging einst Sepp Herberger spazieren

Unterhalb der Hotelanlage hat die Gemeinde Spiez ihren Beitrag dazu geleistet, dass der Besucher die historische Dimension des Ortes nicht übersehen kann. Die Uferpromenade, Strandweg genannt, gehört nämlich ebenso zu der Heldensaga dieses Sommers 1954. An den Gestaden des Thunersees ging Trainer Sepp Herberger seinerzeit mit seinem Co-Trainer Albert Sing jeden Abend spazieren und ersann die Taktik für das nächste anstehende Spiel; hier wurde, so beschreiben es Fußballhistoriker in vielen Büchern, der Grundstein für den unerwarteten Erfolg gelegt. Horst Eckel weiß noch, dass im Anschluss die Spieler zusammengerufen wurden oder einzeln ins Hotelzimmer bestellt wurden – „wer dann nicht dabei war, wusste, dass er nicht spielt“. Und vermutlich wurden hier auch die immergrünen Herberger-Weisheiten „Der nächste Gegner ist immer der schwerste“ und „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel“ geboren. Die Spiezer haben den restaurierten Uferweg von einem Kunstschnitzer mit einigen Skulpturen angereichert; mit etwas Fantasie sind Sepp Herberger, Herbert Rahn oder Fritz Walter zu erkennen.

Horst Eckel ist nicht dabei, aber warum auch, den gibt es ja wirklich. Keine Stunde benötigt der Bus am nächsten Morgen von Spiez nach Bern, die Endspielroute in den Stadtteil Wankdorf. Hier steht seit einigen Jahren aber nicht mehr das historische Wankdorfstadion, in dem in der legendären Endspiel-Radioreportage von Herbert Zimmermann „keiner wankt“ und in dem das Rasengeviert mit einem Jägerzaun von den dicht besetzten Zuschauerrängen getrennt war. Der historische Uhrenturm mit dem großen Longines-Werbebanner wurde gerettet und steht heute auf der Außenanlage vor dem Haupteingang, auf der einen Seite werden die Ergebnisse der Heimmannschaft Young Boys Bern gezeigt, auf der Rückseite steht es immer noch drei zu zwei für Deutschland gegen Ungarn.

Nachkommen der deutschen Helden wurden von den Schweizern zu diesem Termin ebenfalls eingeladen, es gibt enge Verbindungen unter den Angehörigen – Witwen, Kinder, Enkel –, sie treffen sich mal hier und dort, der DFB unterhält eine eigene Abteilung für die Organisation solcher Zusammenkünfte.

60 Jahre später wieder auf dem Rasen

Tradition ist für den Kult um den Fußball von großer Bedeutung, ein Spiel über 90 Minuten ist weniger wert, kennt man nicht all die Geschichten der Vorzeiten. Wissenschaftler, Buchautoren, Statistiker beschäftigen sich mit dem Vergangenen, knüpfen Verbindungen zwischen den Turnieren und der allgemeinen Weltentwicklung. Und so stehen sie zum Gruppenfoto unter der Uhr zusammen, die Liebrichs, Tureks, Rahns, Posipals und Kohlmeyers. Deutscher Mittelstand, Bustouristen, wie es so viele hier in dem Unesco-Weltkulturerbe Bern gibt, aber an diesem Ort doch etwas Besonderes. Auch sie werden später, bei einem Abschlussessen im Belvedere, alle zu der Hamburger Musicalpremiere eingeladen; Zeitzeugen aus zweiter Hand.

Aber dann steht da auch noch ein kleiner grauhaariger Mann, rundes, listiges Gesicht. Jeno Buzánsky kennt das alles hier aus erster Hand, er ist der letzte noch lebende Ungar des damaligen Spitzenteams um Ferenc Puskás und Nándor Hidegkuti, das vier Jahre lang kein Länderspiel verloren hatte, dann aber an diesem 4. Juli 1954 das entscheidende. Auch er wird bei dieser gemeinsamen Fahrt der beiden einstigen Gegner immer wieder begrüßt, sein Deutsch reicht nicht für viel Konversation. Das Wort Vize aber kennt er zur Genüge; wenn er es hört, steht er automatisch bei den Begrüßungen auf und winkt. Einmal Vize, immer Vize. Einmal Weltmeister, immer Weltmeister.

Am Ende spielen sich die beiden auf dem Stadionrasen Bälle zu. Gekonnt, mit Witz, überhaupt nicht beschwerlich. „Wunderbar“, sagt Horst Eckel lachend. Er meint nicht diese 60 Jahre alte Geschichte. Er meint: Fußball.