Deutschlands Nationalstürmer Thomas Müller vor dem Viertelfinale über die Kritik am Team und den eigenen Anspruch, den Titel zu gewinnen

Santo André. Thomas Müller ist putzmunter – das ist schon mal eine Nachricht. Der 24-Jährige hatte sich vor dem Spiel gegen Algerien krank gefühlt. „Nach den 120 Minuten habe ich befürchtet, dass es einen Rückfall gibt. Aber nix. Alles gut“, sagt der Angreifer der deutschen Nationalmannschaft vor dem Viertelfinale gegen Frankreich am heutigen Freitagabend (18 Uhr/ARD live). Im Interview verrät Müller, warum die Chance auf den Titel für die DFB-Auswahl dennoch viel größer ist als vor vier Jahren. Ganz nebenbei erfindet er auch noch eine neue Berufsbezeichnung für sich selbst.

Hamburger Abendblatt:

Herr Müller, man hört, Sie seien nicht besonders glücklich darüber, wie Sie und die Mannschaft nach dem Spiel in den Medien kritisiert wurden ...

Thomas Müller:

Mit Kritik, wenn sie inhaltlich ist, kann ich leben. Wenn ich selbst nicht gut gespielt habe, sitze ich auch nicht im Zimmer, schaue mich im Spiegel an und sage: Boah, hast du heute wieder geil gespielt. Ich versuche auch, das Spiel zu reflektieren. Aber ich kann nicht haben, wie wir kritisiert werden.

Was hätten Sie denn geschrieben?

Müller:

Richtig ist, dass das Spiel ein Rückschritt war, wie wir es uns nicht hätten vorstellen können. Da hat nicht viel gepasst. Wir haben Fehlpässe gespielt und waren ein ums andere Mal auf einen guten Manuel Neuer angewiesen, was natürlich nicht unser Ziel ist. Ich bin einer, der die Presse auch ein bisschen versteht – im Vergleich zu anderen Mitspielern. Aber trotzdem waren mir die Reaktionen viel zu negativ. Es hieß ja fast, gegen Frankreich hätten wir nun eh keine Chance. Wenn die Italiener so ein Spiel gemacht hätten wie wir gegen Algerien, dann hätte es geheißen: Oh, sind das clevere Hunde. Die haben die schön zappeln lassen und dann haben sie zugestochen.

Per Mertesacker hat ein bemerkenswertes TV-Interview nach dem Spiel gegeben, in dem er sich über die kritischen Fragen geärgert hat. Fanden Sie das gut?

Müller:

Das ist durchaus lustig anzuschauen, finde ich. Und Per hat es auf den Punkt gebracht, es war keine Überreaktion von ihm, sondern die Wahrheit: Wir haben uns den Arsch aufgerissen, haben das Spiel gewonnen – und gut ist es. Wenn wir spielen wie die Ballerinas, dann heißt es doch, wir hätten keine Typen in der Mannschaft.

Mertesacker hat die Frage gestellt: Ob die Leute das schöne Spiel wollen und das Team wieder ausscheidet. Oder ob sie wollen, dass es weiterkommt. Ist das die eigentliche Weiterentwicklung? Aus dem Spektakelfußball von 2010 ist jetzt ein Ergebnisfußball geworden?

Müller:

Wir sind heute eine viel bessere Mannschaft als 2010. Wir hatten damals noch nicht die Qualität, ein Spiel von hinten aufziehen zu können, sondern wir mussten hinten drinstehen und dann kontern wie gegen England und Argentinien. In der Vorrunde wären wir fast ausgeschieden und haben knapp 1:0 gegen Ghana gewonnen. Brillant war das nicht. Wir sind jetzt viel weiter. Die Spieler sind gereift. Auch ich bin ein viel besserer Spieler geworden. Ich finde, unsere WM ist bis jetzt viel souveräner als die 2010.

Was würde ein Viertelfinal-Aus gegen Frankreich unter dieser Voraussetzung bedeuten?

Müller:

Zufrieden fliege ich nur heim, wenn wir den Titel gewinnen. Selbst wenn wir im Finale verlieren würden, könnte ich nicht sagen: Hurra. Ich könnte sagen, wir haben eine gute WM gespielt. Das ja. Aber mit einem Lachen würde ich nicht im Flugzeug sitzen.

Was fehlt der Mannschaft derzeit noch, damit Sie mit einem Lachen heimfliegen können?

Müller:

Wir müssen noch an einigen Schrauben drehen, um endlich mal ein gutes Spiel auf den Platz zu bringen. Wir wollen eine bessere Performance liefern. Ich bin nicht unzufrieden. Ich habe das Gefühl, dass wir eine gute Truppe haben. Aber wir wollen insgesamt eine Schippe drauflegen.

Gegen Frankreich müssen Sie es wohl auch, um weiterzukommen.

Müller:

Das wird ein anderes Spiel. Die werden uns nicht den Ball hinschießen und sagen: Kommt, spielt mal! Da fühlen sich die meisten Spieler bestimmt unwohl, wenn sie uns erst hinter der Mittellinie attackieren. Vielleicht wird es die erste Mannschaft seit Portugal, die auch mitspielen will.

Ihr Bundestrainer Joachim Löw kritisierte die mangelnde Effizienz vor dem Tor. Oliver Bierhoff hat gesagt, dies liege vielleicht auch an der aktuellen Spielergeneration: Sie achte mehr auf das schöne Spiel, probiere auch mal einen Hackentrick, anstatt gradlinig zum Tor zu ziehen. Sehen Sie das ähnlich?

Müller:

Nein, keineswegs! Das ist so eine Aussage, die auch von der Presse hätte kommen können. Wir haben gegen Algerien ja gar nicht mit der Hacke aufs Tor geschossen.

Einmal schon. Beim 1:0.

Müller:

Stimmt. Und zack, war er drin (lacht). Grundsätzlich ist es so: Wenn du mehr Torchancen erspielt hast, hast du auch mehr Möglichkeiten, welche zu vergeben. Mit früher kann ich das nicht vergleichen. Vielleicht hatte Deutschland früher so Strafraumstürmer wie Oliver Bierhoff, die in der 88. Minute, als der erste vernünftige Angriff kam, das Ding reingemacht haben. Aber man kann nicht sagen, dass wir heute abschlussschwache Spieler haben.

Zuletzt gab es für Sie viel Häme, nachdem ihr Freistoßtrick gegen Algerien ein bisschen in die Hose ging. Sie liefen an und stolperten. War das so geplant?

Müller:

Das war so geplant. Wissen Sie, wir hatten uns viel Gedanken um Freistoßvarianten gemacht. Diesmal hat es nicht so richtig funktioniert, und dann fliegt uns das natürlich um die Ohren. Aber ich finde: Es war richtig geil.

Ach ja?

Müller:

Ja. Im Endeffekt hat es ja funktioniert. Die Verteidigung hat nicht mehr auf mich geachtet. Wenn der Lupfer von Toni Kroos ein bisschen höher gekommen wäre, dann hätte ich allein vor dem Tor gestanden.

Warum mussten ausgerechnet Sie sich für den Stolperer hergeben?

Müller:

Ich bin einfach prädestiniert für solche Aktionen (lacht). Nun kann man sagen, bei solch einem Spielstand (es stand noch 0:0, die Red.) muss man das nicht unbedingt machen. Aber sonst wird ja immer gerufen, wir bräuchten Eier. Jetzt haben wir Eier bewiesen.

Haben Sie noch so einen Freistoßtrick auf Lager?

Müller:

Ja, klar. Wir sind nicht müde, immer wieder neue Tricks auszuprobieren. Die Täuschungsmanöver funktionieren schon mal. Jetzt muss nur noch der Ball kommen.

Bei den Franzosen scheint es ein ähnliches Phänomen zu geben wie im deutschen Team bei der WM 2010 nach dem Ausfall von Michael Ballack. Denen fehlt nun Ihr Teamkamerad beim FC Bayern München Franck Ribéry, und es heißt, das Team sei dadurch besser geworden. Wie sehen Sie das?

Müller:

Ich sehe es immer so, wie es geschrieben wird (lacht). Nein, im Ernst: Wenn Frankreich gegen uns heute ausscheiden sollte, was wir alle hoffen, heißt es doch: Der Ribéry hat gefehlt. Vielleicht sind sie ohne Franck individuell etwas schwächer.

Bundestrainer Joachim Löw hat sich entschieden, mit einer Viererkette aus vier Innenverteidigern zu spielen. Was halten Sie als Angreifer davon?

Müller:

Es geht nicht darum, ob auf dem Panini-Bild nun Innenverteidiger oder Außenverteidiger steht. Es geht doch nur um die individuellen Eigenschaften der Spieler. Ich kenne zum Beispiel keinen Außenverteidiger, der im Defensivzweikampf stärker ist als Benedikt Höwedes.

Was würden Sie denn auf Ihr Panini-Bild schreiben: Stürmer? Mittelfeldspieler?

Müller:

Keine Ahnung. Überrascher wäre doch passend.