Die Spieler des Gastgebers weinen gern und oft, was Medien und Altstars zunehmend befremdlich finden

Teresopolis. Die Berichterstattung aus dem brasilianischen Teamquartier könnte dieser Tage auch aus einem belagerten Militärbunker kommen. Fieberhaft wird versucht, dem Eindruck entgegenzuwirken, die Schlacht sei schon verloren. Die Hofpsychologin wurde einbestellt. Teamgeneral Luiz Felipe Scolari schwor ausgewählte Kuriere auf seine Linie ein. Und schließlich verbreitete Neymar, der wichtigste Kämpfer, eine halbe Stunde lang Aufbruchstimmung vor der Presse, gewissermaßen als letzte Patrone.

Die Kriegsmetaphern mögen verziehen werden, sie folgen dem Vokabular Scolaris, der nach dem dramatischen Achtelfinalsieg über Chile erklärte, es müsse Schluss sein mit der Politik von „Liebe und Frieden“. Der Nationaltrainer: „Wir sind sehr gut erzogen und höflich im Umgang mit unseren ausländischen Gegnern. Aber in der Kabine haben wir darüber geredet, dass wir uns nicht die ganze Zeit steinigen lassen müssen. Wir werden jetzt ein bisschen mehr zu meinem normalen Stil zurückkehren und aggressiver sein.“ Alles klar: Es hat also einfach nur an Chauvinismus gefehlt.

Abgesehen davon, dass internationale WM-Besucher diese Diagnose nicht durchweg teilen würden und Scolaris Worte angesichts des beträchtlichen sozialen Sprengstoffs im Land als gefährlich bezeichnet werden könnten, hat der Veteran aus tausend Gefechten da natürlich mal wieder eine schöne Nebelkerze gezündet. Denn das Problem war zuletzt gewiss nicht, dass er oder seine Spieler zu sanft zu anderen gewesen wären. Das Problem war, dass sie sich selbst nicht im Griff hatten. Bei manchen Spielen schafften es Stars wie Neymar oder Thiago Silva nicht einmal, ohne Tränen die Hymne zu überstehen. Da war es fast unausweichlich, dass die Drucksituation des Elfmeterschießens in Schluchzorgien ausarten musste. Die Bilder laufen hier im Fernsehen immer noch rauf und runter: Silva, der heult und keinen Elfmeter schießen will. Torwart Julio Cesar, der heult und danach zwei Elfmeter hält. Neymar, David Luiz, sogar viele Betreuer.

Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die Szenen das Land geschockt haben. „Emotionales Chaos“, urteilt das Sportblatt „Lance“, „viel Herz, wenig Verstand“, sieht die „Folha de São Paulo“. Ex-Spieler bezeichneten das Spektakel als regelrecht peinlich. Er hätte nie geweint, höchstens vor Freude, sagte Carlos Alberto, der Weltmeisterkapitän von 1970, und brachte Volkes Stimme auf den Punkt: „Es reicht!“ Scheinbar beiläufig streute er zudem eine Anekdote von damals ein. Auf der Fahrt ins Stadion vor dem Finale sei der damalige Physiotherapeut des Teams, Carlos Alberto Parreira, sehr besorgt gewesen. „Da habe ich das Wort ergriffen: ‚Wir werden gewinnen, wir haben die Mannschaft dazu.‘ Ich habe Optimismus verbreitet.“

Parreira ist heute Teammanager und damit nach Ansicht der Nation zusammen mit Scolari verantwortlich für die Psychokrise der Mannschaft. Denn so unbestritten es ist, dass die Spieler enormem Erwartungsdruck ausgesetzt sind, so diskutabel ist doch, woher dieser primär kommt. Wirklich vom Volk, wie immer behauptet wird? Oder nicht doch eher von der brasilianischen Fußballhierarchie, die sich ein Versagen bei dieser Heim-WM auf keinen Fall leisten kann, weil dann Mythos und Marke beschädigt wären, sprich: die Grundlage für ihre üppigen Geschäfte?

Hört man sich auf der Straße um, dann scheint auf die Spieler jedenfalls nicht direkt der Galgen zu warten. Die „torcida“, die Anhängerschaft, ist sich überwiegend bewusst, es mit einer vergleichsweise limitierten Kickergeneration zu tun zu haben, und würde sich ansonsten über etwas brasilianischeren Fußball freuen. Mit dem Titel rechnen immer weniger. Sie wünschen sich allenfalls, dass ihn nicht Argentinien gewinnt. Nein, es war Parreira, der am ersten Tag des Trainingslagers „Der Champion ist da“ tönte, nachdem er vor einigen Monaten schon erklärt hatte: „Es ist undenkbar und unvorstellbar, dass Brasilien diese WM nicht gewinnt. Ein Plan B existiert nicht.“ Es war Scolari, der sagte: „Ich weiß, dass wir die anderen Mannschaften respektieren müssen, aber insgesamt sind wir besser.“

Erst vor dem Chile-Spiel wurde den Verantwortlichen bewusst, dass sie die falsche Strategie gewählt hatten. Da schwenkte Scolari plötzlich ins Gegenteil um und klang schon fast ambitionslos: „Wenn wir ausscheiden, geht das Leben weiter.“

Der Turnaround kam zu spät für einige Spieler, allen voran der überforderte Kapitän Thiago Silva, der sich vor dem Elfmeterschießen ganz hinten auf die Liste der möglichen Schützen setzten ließ und hernach bekannte: „Es ist unmöglich abzuschalten – selbst nachts, wenn du im Bett liegst. Ich habe mich nach dem Eröffnungsspiel hingesetzt und mich gefragt: ,Thiago, verdammt, weshalb bist du so ängstlich?‘“

Vielleicht hat es ja Regina Brandao herausgefunden. Die aparte Psychologin von Scolaris Vertrauen wurde am Dienstag herbeizitiert, um das havarierende Schiff wieder halbwegs auf Kurs zu bringen. Bei der Gelegenheit zeichnete das Verbandsfernsehen gleich noch ein Interview mit ihr auf, das zur Beruhigung der Nation beitragen sollte, allerdings eher das Gegenteil erreichte. Vor der sanften Bergkulisse des Naturschutzgebietes um Teresopolis erklärte Brandao zur allgemeinen Verblüffung nämlich, die Spieler seit einer Session zu Beginn des Trainingslagers überhaupt nicht mehr gesehen zu haben: „Ich habe das per WhatsApp und E-Mail gemacht.“

Im Ergebnis scheint der begnadete Theatraliker Scolari auf ureigenstem Terrain zu scheitern, der emotionalen Steuerung seiner Spieler. Offenbar hat die Verunsicherung ihn auch schon selbst erreicht. In einem ungewöhnlichen Akt bat er mit Parreira und Co-Trainer Flavio Murtosa zu Wochenbeginn sechs renommierte Fußballjournalisten des Landes zum Gedankenaustausch. Dabei gab er zu, dass einige Spieler fast am Rande des Nervenzusammenbruchs stünden, und versuchte einerseits – Ende von Liebe und Frieden – die Presse zum Aufbau einer Druckkulisse gegen den Weltverband Fifa und die Schiedsrichter zu gewinnen, gab andererseits aber auch zu, dass es jetzt vielleicht weniger um neue Motivationsreden gehe als um besseren Fußball.

Ja, der Fußball. Den gibt es auch noch. Nicht nur Traditionalisten würden sich darüber freuen, wenn Scolari seine Elf auch mal mit taktischer Arbeit behelligen würde. Doch auf die üblichen anderthalb Tage Freizeit nach einem Spiel folgten auch diese Woche in erster Linie nur die üblichen Kicks zwischen Stammspielern und Ersatzleuten. Dabei verglich ein Kolumnist von „Lance“ die WM durchaus schlüssig mit einem Examen und räsonierte, dass gute Vorbereitung immer noch das beste Mittel gegen Versagensängste wäre. Ein Kollege von ESPN Brasil drückte denselben Befund noch etwas derber aus: „Diese Mannschaft wird miserabel trainiert.“

Tatsächlich stellt sich die Frage nach Ursache und Wirkung: Ist der Fußball so schlecht, weil die Nervosität so groß ist? Oder verhält es sich doch umgekehrt? Gegen Chile akzentuierte die Panik ja nur die Schwächen im Kombinationsspiel, die Verteidiger David Luiz einen hohen Ball nach dem anderen nach vorn bolzen ließen und zur Quote von 68 Prozent angekommener Pässe führten – der schlechteste Wert einer brasilianischen WM-Mannschaft seit 50 Jahren. Bis dahin lassen sich die Werte zurückverfolgen.

Von einem wie Neymar hätte man gern erfahren, ob er solchen Rumpelfußball just bei einer Heim-WM nicht ein bisschen traurig findet. „Wir sind nicht für die Show hier, sondern um zu gewinnen“, sagte Brasiliens Hoffnung stattdessen, lächelte sein Bubenlächeln und schickte der Antwort noch den gereckten Daumen hinterher. Die Nationalmannschaft hat genug damit zu tun, den „psychologischen Kollaps“ („O Globo“) zu verhindern. Über den Tod des „jogo bonito“ (schönes Spiel) wird da schon gar nicht mehr geredet.

Brasilien: 12 Julio Cesar – 2 Alves, 3 Thiago Silva, 4 David Luiz, 6 Marcelo – 5 Fernandinho, 8 Paulinho, 11 Oscar, 7 Hulk – 10 Neymar, 9 Fred.Kolumbien: 1 Ospina – 18 Zuniga, 2 Zapata, 3 Yepes, 7 Armero – 6 Sanchez, 8 Aguilar, 11 Cuadrado, 10 James Rodriguez – 9 Gutierrez, 21 Martinez.Schiedsrichter: Velasco (Spanien).