Fifa ermittelt nach übler Attacke gegen Uruguays Stürmer Luis Suarez. Das mögliche Strafmaß für den Wiederholungstäter ist offen

Natal. „El Maestro“ wird Oscar Washington Tabarez genannt, und der Lehrer hatte an diesem Tag wenig Nachsicht mit den aufmüpfigen Schülern im Pressesaal. „Ich habe die Szene nicht gesehen, und ich akzeptiere keine Ratschläge von niemandem“, raunzte Uruguays Nationaltrainer auf wiederholte Fragen nach dem Biss, der die Fußballwelt bewegt. Hat Luis Suarez wirklich seine Zähne in die Schulter von Giorgio Chiellini gerammt? Sagen wir so: Es gibt da verschiedene Ansichten.

Tabarez, 67, holte mal eben zu einer Grundsatzerklärung aus. „Das hier ist eine Weltmeisterschaft im Fußball und nicht eine in billiger Moral. Wie wir in Uruguay sagen: Es gibt immer Leute, die hinter dem Baum warten, bis einer einen Fehler macht. Für uns ist er ein wichtiger Spieler, und wenn er angegriffen wird, wie jetzt schon im Pressesaal, dann werden wir ihn verteidigen.“

Sie müssen das nun auch gegen den Weltverband tun. Die Fifa eröffnete ein offizielles Disziplinarverfahren gegen den Stürmer. Dabei wird auch nach Ansicht der Fernsehbilder entschieden. Das Gremium habe das TV-Material angefordert und werde es bewerten, sagte eine Fifa-Sprecherin. Bis zum späten Mittwochabend hatte die Delegation Uruguays Zeit, eine Stellungnahme abzugeben. Grundsätzlich ist das Gremium frei in seiner Entscheidung. Ausmaß und Dauer können beliebig ausgedehnt werden. In diesem Fall ist aber mit einer raschen Entscheidung zu rechnen. „Die Kommission weiß, dass Uruguay noch im Turnier ist“, hieß es am Mittwoch vielsagend aus Fifa-Kreisen. Deutlich vor dem Achtelfinale Uruguays am Sonnabend gegen Kolumbien dürfte das Urteil gefällt werden. Das Strafmaß ist völlig offen. Eine Sperre aufgrund von TV-Bildern wäre aber kein Novum: Der Italiener Mauro Tassotti erhielt bei der WM 1994 acht Spiele Sperre, weil er dem Spanier Luis Enrique im Viertelfinale mit einem Ellbogenstoß die Nase gebrochen hatte.

Britische Medien zumindest träumen im Fall Suarez von einer Sperre von 24 Spielen, dem Höchstmaß. Auf der Insel ist die Aufregung besonders groß. „Die Fifa fletscht die Zähne nach Suarez’ Biss”, titelte die „Times“. Der „Daily Mirror" schrieb von der „Rückkehr des Vampirs”. Und der „Daily Express" druckte die Zeilen „Kiefer III! Luis Suarez hinterlässt erneut Spuren und droht bei der WM rausgeschmissen zu werden.” Suarez spielt in Liverpool, dort hat er auch schon zugebissen (und zehn Spiele Sperre kassiert), und in der Heimat des Fair Plays echauffieren sich viele immer noch über seine Handballeinlage in der letzten Minute des WM-Viertelfinals 2010 gegen Ghana, die ein sicheres Tor verhinderte und über den Umweg des fälligen, aber verschossenen Strafstoßes die Uruguayer ins Elfmeterschießen und schließlich zum Sieg rettete. Suarez sah Rot und wurde für das Halbfinale gesperrt.

Obwohl den Gesetzen damit Rechnung getragen war, führte der Fall zu ernsthaften kulturellen Missverständnissen. Die Briten insbesondere regten sich auf, in Uruguay verstand man nicht, warum. Am Rio de la Plata hat man eine eigene Sicht auf den Fußball; an den Rand des Regelwerks und auch mal darüber hinaus zu gehen gilt dort schlichtweg als Teil des Spiels. „Garra Charrúa“, nach den Ureinwohnern des heutigen Staatsgebiets, nennt sich der spezielle Kampfgeist der Uruguayer, ein Mythos, den jedes Kind mit seinen ersten Ballkontakten aufnimmt. Damit erklärt sich das nur drei Millionen Einwohner große Land auch, dass es in seiner Geschichte zwei WM-Titel und 15 Südamerika-Meisterschaften gewinnen konnte. Etwa in diesem Sinne sagte Suarez nach der Partie: „Das sind einfach Dinge des Spiels. Ich hatte Kontakt mit seiner Schulter, aber da war nichts. Wir sind alles Fußballer.“ Was auf dem Platz passiert, bleibt da ... und so weiter.

Chiellini, einer der härtesten Verteidiger der Welt, wollte sich jedoch partout nicht an dieses Gentlemen’s Agreement halten, dafür fand er sich in diesem Fall dann doch zu wenig gentlemanlike behandelt. So wie er bereits kurz nach der Tat seine Schulter mit Zahnabdrücken in die Kameras hielt, wiederholte er seine Anklage auch nach Spielschluss: „Suarez ist eine Schlange, und er kommt damit durch, weil die Fifa ihre Stars in der WM behalten will. Der Schiedsrichter sah den Abdruck, aber er hat nichts unternommen.“

Wo der Raum für Verschwörungstheorien schon mal geöffnet war, schaltete Uruguays Kapitän Diego Godin postwendend noch einen Gang höher. Der Verteidiger, der mit seinem Kopfball kurz vor Schluss das 1:0-Siegtor erzielt hatte, unterstellte Chiellini, den Vorfall inszeniert und den Abdruck schon ins Spiel mitgebracht zu haben. „Einen Biss?“, fragte er in die Runde. „Ich habe keine Bisse gesehen und ihr auch nicht, denn es gab keine. Die Abdrücke sind alte Wunden, jeder Idiot kann das erkennen.“ Chiellini sei „ein gewaltiges Klatschmaul und eine Heulsuse“.

Uruguay gegen den Rest der Welt – und die Fifa mittendrin. Vielleicht hätte der Weltverband auch einfach nicht den Mexikaner Marco Antonio Rodríguez Moreno als Referee auf dieses Spiel ansetzen sollen. Dessen Spitzname lautet, kein Witz: Dracula.