Im Gruppenfinale gegen Kamerun muss WM-Gastgeber Brasilien an diesem Montag vor allem die vielen Kritiker im eigenen Land beschwichtigen.

Brasilia. In einem Architekturdenkmal will die „Seleção“ wieder zu sich finden. Das Brasilia Palace Hotel am Rande der Hauptstadt wurde von Oscar Niemeyer entworfen, es ist die älteste Herberge der aus dem Boden gestampften Utopie namens Brasilia. In dem eleganten Flachbau am See hörte Präsident Juscelino Kubitschek 1958 am Radio die Übertragung von Brasiliens erstem WM-Sieg in Schweden. Und hier residierte die Nationalelf voriges Jahr fünf Tage lang vor ihrem Sieg beim Confederations Cup.

Am Sonnabendabend checkte Luiz Felipe Scolaris Delegation wieder ein, der Trainer ist ein großer Freund von Ritualen und Glücksbringern. Außerdem spielt seine Elf nun mal an diesem Montag in der Stadt, gegen Kamerun (22 Uhr/ARD). Ein Punkt ist erforderlich zum Einzug ins Achtelfinale, ein Sieg sichert Platz eins in Gruppe A. Aber vor allem wäre es hilfreich, gegen die bislang wohl schwächste Turniermannschaft mal eine überzeugende Leistung abzuliefern nach dem geschenkten 2:1-Sieg gegen Kroatien und dem torlosen Remis gegen Mexiko. Brasiliens erstes Schicksalsspiel bei der Heim-WM ist vor allem auch eines gegen den grassierenden Pessimismus im Land.

Natürlich, auch an diesem Montag werden alle wieder die Bars in den Nationalfarben schmücken, und selbst in der unterkühlten Beamtenstadt Brasilia wird ein leidenschaftliches Publikum die Hymne schmettern, aber der uninspirierte Muskelfußball von Scolaris Elf reißt hier bislang niemanden vom Hocker.

Trost fanden die Anhänger in den vergangenen Tagen allein in der Erkenntnis, dass bei diesem Turnier kaum einer Mannschaft – mit Ausnahme von Frankreich vielleicht und, klar, Costa Rica – zwei überzeugende Darbietungen gelangen, sich also niemand als unbezwingbar aufdrängt. Hoffnung aus der Schwäche der anderen zu ziehen – da war Brasilien im Fußball allerdings auch schon mal weiter.

„Wir sind in einem Land aufgewachsen, dessen nationale Passion der Fußball ist“, erklärte sich Verteidiger David Luiz dieser Tage das Unbehagen im Volke. „Wir sind große Partien gewohnt, wundervolle Spieler, die dribbeln. Als Kind auf der Straße wollte ich auch glücklich sein, Tore schießen und Tricks machen. Aber der Fußball hat sich entwickelt, und es gibt keine schwachen Gegner mehr.“ Luiz beschloss seinen historischen Exkurs mit einer These, die Brasiliens aktuelles Vermögen deprimierend gut beschreibt: „Um zu gewinnen, musst du heute manchmal 80 Minuten leiden und zehn Minuten spielen.“

Und wie viel trainieren? Luiz äußerte sich auch zur zunehmenden Debatte um das Prozedere bei der „Seleção“, die zwischen Anreise zur Partie gegen Mexiko, Spiel, Abreise und Freizeittag in der abgelaufenen Woche keine volle Übungseinheit absolvierte. Dabei wäre Training das Wichtigste angesichts der zahlreichen Schwächen, meinen die Kritiker. „Aber wer sagt, dass das nur auf dem Platz stattfinden muss, indem man dem Ball hinterherrennt?“, entgegnete Luiz. „Es gibt viel zu tun, der mentale Teil zum Beispiel ist wichtig oder die Analyse der Gegner.“ Ja, der Fußball ist komplizierter geworden.

Da er zudem 2014 im eigenen Land gastiert, setzt Scolari noch mehr auf Kopfarbeit, als er das sowieso schon immer getan hat. Seit 1998 kooperiert er, an welcher Trainerstation auch immer, mit der Psychologin Regina Brandão. Dieses Mal verstärkte sich die Expertin sogar mit zwei Assistentinnen, um die immense Aufregung einer Heim-WM in produktive Bahnen zu lenken.

Mit einem umfangreichen Fragebogen fand das Team unter anderem heraus, dass die Spieler sich wohler fühlen, wenn es keine Zweifel um die Aufstellung gibt. Weshalb gegen Kamerun wieder dieselbe Truppe auflaufen dürfte, die Brasilien schon im Schlaf herunterbeten kann: Julio Cesar – Dani Alves, Thiago Silva, David Luiz, Marcelo – Luiz Gustavo, Paulinho – Oscar, Neymar, Hulk – Fred. Es sind exakt die Sieger des Confederations Cups, der so gute Erinnerungen weckt. Schon ungewöhnlich, dass sich eine Mannschaft über ein Jahr überhaupt nicht verändert, trotz der unterschiedlichen Erlebnisse in den Clubs. Der 2013 so dominante Mittelfeld-Allrounder Paulinho zum Beispiel wechselte im Sommer zu Tottenham Hotspur, wo er eine überschaubare Saison spielte; er wirkt bislang auch bei der WM wie ein schlechtes Double seiner selbst. Oder Mittelstürmer Fred von Fluminense Rio de Janeiro. Der war lange verletzt und brauchte hier schon seine Schwalbe gegen Kroatien, um überhaupt mal aufzufallen.

Daneben wissen durch die Blaupause vom letzten Sommer natürlich auch die Gegner umso besser, wie sie sich auf Brasilien einzustellen haben. Taktisch hat sich nämlich auch nichts geändert bei Scolaris Elf. Hat er zu früh alle Karten auf den Tisch gelegt? Dem Trainer blieb kaum eine andere Wahl, so fatalistisch war vor einem Jahr die Stimmung angesichts einer bis auf Weltranglistenplatz 22 abgerutschten Auswahl. Wild entschlossen und ungleich professioneller als bei allen Gegnern wurde daraufhin der Confederations Cup angegangen, gewonnen und zum Gründungsmythos der WM-Elf erhoben. Womöglich wurde er dabei etwas überhöht. Zumal sich die Generalprobe für Brasilien immer als trojanisches Pferd erwies. Schon vor den letzten beiden Weltmeisterschaften wurde das Turnier gewonnen. Es folgte jeweils das Aus im Viertelfinale.

„Die Wahrheit ist, dass ich auch nicht weiß, was wir machen sollen“, sagt Abwehrmann Marcelo. Vielleicht hilft ja wirklich Glauben: an die Rituale von Familienvater Scolari, an den Geist von Brasilia, an die Macht der Vorsehung. Und Singen. Die Spieler trällern bevorzugt das Lied „Tá escrito“. In der inoffiziellen Teamhymne heißt es unter anderem: „Kopf hoch, vergiss die Traurigkeit. Ein neuer Tag wird anbrechen. Deine Stunde wird kommen.“

Kamerun: 16 Itandje – 17 Mbia, 14 Chedjou, 3 Nkoulou, 5 Nounkeu – 7 N'Guemo, 21 Matip, 18 Enoh – 13 Choupo-Moting, 20 Salli – 10 Aboubakar. Brasilien: 12 Cesar – 2 Alves, 3 Thiago Silva, 4 David Luiz, 6 Marcelo – 8 Paulinho, 17 Luiz Gustavo – 7 Hulk, 11 Oscar, 10 Neymar – 9 Fred. Schiedsrichter: Eriksson (Schweden).