Puristischen Fußball-Ästheten sind die schwarz-rot-goldenen „Schlaaand!“-Orgien ein Gräuel, für die Linke und Teile der Grünen Indiz für den zunehmenden Nationalismus im Land. Dabei ist Public Viewing vermutlich das Beste, was dem deutschen Fußball und der Multikultigesellschaft passieren konnte

Theoretisch fände er Fahnenwinken, fände er Patriotismus sogar schön, sagt der Dramatiker und Romanautor Moritz Rinke („Nibelungen“, „Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel“). Das Public Viewing allerdings nicht. „Es kommt mir vor, als säße ich im Bordell vor so einem komischen aufgeblasenen Busen und müsste jetzt hau ruck loslegen“, meint Rinke, der in der offiziellen deutschen Autorennationalmannschaft die Nummer 9 trägt und sich zurzeit mitten auf dem Atlantik befindet – auf der Rückreise aus Brasilien, wo die kickenden Literaten am 8. Juni in einem spannenden Spiel gegen ihre brasilianischen Autorenkollegen ein torloses Unentschieden erreichten (2013 im Hinspiel auf der Frankfurter Buchmesse war es 9:1 für Deutschland ausgegangen, Rinke hatte in beiden Halbzeiten einen lupenreinen Hattrick erzielt).

Er ist sicherlich mehr als nur ein Fußballnarr, er bezeichnet sich selbst als „Liebender“ dieses Mannschaftssports, von dem und für den man leben (und sterben) könne. Doch das Public Viewing mit seinem „aufgeblasenen Patriotismus“ habe etwas Destruktives, schrieb er jüngst in einem Essay in der „Süddeutschen Zeitung“: „Es tötet echte Anteilnahme. Es kann sogar so weit kommen, dass man das eigene Team scheitern sehen will und man wünscht, dass wir schon in der Gruppenphase rausfliegen, von Ghana gedemütigt, nur damit endlich wieder Ruhe ist. Was für eine absurde, traurige Verkehrung! Die ganze Zärtlichkeit, das Interesse an Fußwurzelgelenken und Formkurven, unsere Hingabe und Liebe für den Kader – wie weggeblasen, weggepresst von lauten Menschen, die alle vier Jahre vorgeben, unser Spiel zu lieben, aber sie lieben es nicht, sie wollen nur das Drumherum, die billigen aufgespritzten Reize...“

Fans sagen heute nicht „meine Mannschaft spielt“, sondern sie sagen „wir spielen“; ganz gleich, ob es sich um die liebste Vereinsmannschaft oder die Nationalmannschaft handelt. Noch wichtiger ist: Das unglaublich dynamische, schnelle – aber auch leicht zu begreifende – Spiel bietet seinen Zuschauern den größtmöglichen Freiraum für Emotionen, über alle Grenzen hinweg. Denn im Stadion – vor allem aber beim Public Viewing – können sie ihre Emotionen ungestraft so zeigen, wie sie es wollen (außer, sie würden andere gefährden). Sie dürfen sich umarmen, küssen, herumhüpfen, brüllen, fluchen, in die Luft springen, singen, schreien, ihren Tränen freien Lauf lassen, Gelbe und Rote Karten fordern und Elfmeter; sie dürfen sogar politisch inkorrekt sein. Kurz gesagt: Sie dürfen einfach mal die Sau rauslassen, wobei sie sich immer in der besonderen Lage zwischen Kameradschaft, Verbrüderung und der schützenden Anonymität einer Masse befinden.

Aber da wäre auch die politische Bewertung des schwarz-rot-goldenen Fahnenmeers, das sich seit dem deutschen „Sommermärchen“ 2006, der Fußball-WM im eigenen Land, bis heute als fester Bestandteil während großer internationaler Turniere etabliert hat. Linke, Alt-Linke und große Teile der Grünen verdammen das Public Viewing. So wie sie überhaupt das gesamte Straßenbild kritisieren, das während einer WM (oder einer EM) von den deutschen Nationalfarben dominiert wird: Wenn Autofahrer ihre Empathie mit Fähnchen und Außenspiegelüberzügen demonstrieren; wenn Gärten, Balkone, ganze Häuserfronten (und Schaufenster sowieso) mit Flaggen geschmückt und dekoriert werden. Die unbequeme Frage lautet: Ist das angesichts der jüngeren deutschen Geschichte wirklich harmlos? Ist „schwarz-rot-geil“ Ausdruck eines neuerdings unverkrampften Verhältnisses zum „Vaterland“?

Für die Grüne Jugend ist der „Patriotismus – Nein danke!“-Aufkleber jedenfalls nach wie vor aktuell. Die Nachwuchsorganisation beruft sich dabei auf ihrer Website auf den Soziologen Wilhelm Heitmeyer vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld: Der habe 2006 vor und nach der WM in Deutschland Menschen befragt und festgestellt, dass Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit während der WM angestiegen seien.

Doch dieses Ergebnis ist aus dem Zusammenhang gerissen. Denn Heitmeyer machte in seiner Forschungsarbeit zunächst auf ein gravierendes Missverständnis aufmerksam: „Der Kern des Patriotismus ist, genau wie beim Nationalismus, die Identifikation mit seinem Land. Der Patriot ist stolz auf die Demokratie und auf die sozialen Errungenschaften in seinem Land, ohne dass er das mit anderen Ländern vergleicht. Der Nationalist dagegen vergleicht sein Land immer mit anderen Nationen. Er ist stolz, Deutscher zu sein, und er ist stolz auf die deutsche Geschichte.“

Aber noch immer verwechseln viele hartnäckig die beiden Begriffe, auch wenn es Heitmeyers Wissenschaftskollegen Ulrich Wagner und Julia Becker von der Universität Marburg längst gelungen ist, empirisch zu belegen, dass sich die beiden Konzepte trennen lassen. Wagner und Becker zeigten auf, dass Nationalismus tatsächlich mit Fremdenfeindlichkeit einhergeht, während Patrioten diese Tendenz eher nicht zeigen. Diese Diskrepanz brachte schon der frühere Bundespräsident Johannes Rau allgemein verständlich auf den Punkt: „Ein Patriot ist jemand, der sein Vaterland liebt. Ein Nationalist ist jemand, der die Vaterländer der anderen verachtet.“

Aber auch das wäre wohl zu einfach. Denn gleichzeitig stellte die Forschungsgruppe fest, dass es immer darauf ankommt, wie wichtig einem Patrioten die demokratischen Prinzipien sind. Je stärker er diese betont, desto geringer fällt auch seine Fremdenfeindlichkeit aus. „Die Identifikation mit dem Land spielt bei diesen Patrioten keine so wichtige Rolle“, sagt Wagner, „wenn sie aber hochgekocht wird, dann kommt es auch bei Patrioten zu dem gleichen negativen Effekt wie beim Nationalisten.“ Denn die Fremdenfeindlichkeit in Deutschland war laut ihrer Studie nach dem „Sommermärchen“ nicht geringer als davor, und der Nationalismus hatte sogar leicht zugenommen. „Während der WM 2006 hieß es ja ‚Die Welt zu Gast bei Freunden‘“, sagte Wilhelm Heitmeyer, „aber damit war es danach auch schon wieder vorbei.“

Mittlerweile stellt sich die Frage, ob dieses Untersuchungsergebnis nicht schon wieder überholt ist. Wer sich beispielsweise die knapp 45.000 Fans, die sich am vergangenen Montag zum Auftaktspiel der deutschen Nationalmannschaft gegen Portugal auf dem Heiligengeistfeld versammelt hatten, genauer ansah, konnte weder rechtsradikale Tendenzen und Fremdenfeindlichkeit noch Hass oder Gewalt entdecken. Dafür jede Menge junger, gut gelaunter Leute mit Migrationshintergrund, mehr oder minder angesäuselt, die sich unübersehbar als Anhänger der deutschen Nationalmannschaft – als Deutsche eben – outeten. Und die sogar die wenigen portugiesischen Fans nach der schmachvollen 0:4-Niederlage ihrer Mannschaft trösteten und aufmunterten, anstatt sie zu verhöhnen.

Für Uwe Bergmann, Veranstalter der Hamburger Kia-Fan-Arena, handelt es sich daher allerhöchstens um fröhlichen „Party-Patriotismus“ und nicht etwa um „Deutschtümelei“, wenn Fans sich nicht mehr nur gesenkten Hauptes zu ihrer Mannschaft bekennen, sondern ihre Nationalflagge küssen: „Die schwarz-rot-golden geschminkte Frau auf den Schultern ihres Freundes: Die bringt die Leichtigkeit und Ausgelassenheit, sie macht den Charme eines Fanfestes aus.“ Die Zielgruppe seien ja nicht die Fußballexperten, sondern Event-People, die aktiv am Leben teilnehmen. „Im Zentrum des Geschehens stehen daher auch nicht die Spieler auf dem Rasen, sondern die Fans, die sich selbst feiern, die gemeinsam jubeln und trauern. Für mich sind Fanfeste der Gegenentwurf zu Facebook.“

Auch der emeritierte Frankfurter Soziologieprofessor Detlev Claussen, der seit 1998 an der Universität Hannover über das „Lebensthema Fußball“ forscht („Was geschieht im Spiel?“), bewertet die schwarz-rot-goldenen Fanmeilen in den deutschen Städten während der Fußballwelt- und Europameisterschaften als Ausdruck „überwiegend friedlicher Ethno-Heterogenität.“ Es gehe den Fans fast ausschließlich um die stimmungsvolle Party, was die radikale Rechte ebenso wie der typische Hooligan strikt ablehnen würde. Überdies, so Claussen, fände die wahre Identifikation ausschließlich mit Fußballmannschaften auf lokaler Ebene statt. „Der Bedeutung der deutschen Nationalelf fürs Land wurde seit dem „Wunder von Bern“ 1954 ein viel zu hoher Stellenwert und eine viel zu große Bedeutung eingeräumt“, sagt er,. „Das konnte man zum Beispiel 1990 beim triumphalen Empfang der Weltmeistermannschaft auf dem Frankfurter Römer beobachten. Viele befürchteten damals eine Deutschland-Orgie: das Absingen der Nationalhymne bei gleichzeitigem Schwenken der Nationalflagge. Aber was hat die glückstrunkene Menge gebrüllt? – ‚We are the Champions!‘. Dieses ‚Support your Team‘-Gefühl, das ist doch ganz normal!“

Und es ist auch global: Fußballer sind längst nicht mehr nur asketische Hochleistungssportler, die das Runde streicheln, flanken oder im Eckigen versenken müssen. Wenn diese Basis jedoch stimmt; wenn ihre Ablösesummen im zweistelligen Millionenbereich liegen, wenn sie echte Typen sind, genießen sie rasch den Ruf eines internationalen Popstars. Sie fungieren als Werbeikonen und Trendsetter, nicht zuletzt aber auch als glaubhafte Vertreter und Befürworter einer freien Welt, die auf Rassismus und Revanchismus hervorragend verzichten kann. Die Plattitüde, dass der Fußball ein Spiegel der Gesellschaft ist, hat ausgedient. Stattdessen hat der Sport seinen festen Platz in der Gesellschaft und wird als integraler Bestandteil des wahren Lebens genauso wie Mode, Musik oder Medien betrachtet und analysiert. Bis zum „Sommermärchen“ wurde eine Fußball-WM in Deutschland allgemein eher kritisch betrachtet, und es gab die Befürchtung eines nationalen Überschwangs. Jedoch: „Die meisten haben heute begriffen, dass es auch beim Fußball in erster Linie um den Spaß am Spiel geht“, sagt Claussen. Das ließe sich vor allem dann beim Public Viewing feststellen, wenn zwei ausländische Mannschaften gegeneinander spielen und die deutschen Fans plötzlich etwa einen traumhaften Flugkopfball des Niederländers Robin van Persie gegen Spanien bejubeln.

Der sympathische, fremdenfreundliche Ruck, der durch den gesamten deutschen Fußball ging, war erstmals rund zwei Jahre vor dem „Sommermärchen“ spürbar gewesen. Damals, nach der völlig verkorksten Europameisterschaft 2004 in Portugal (Deutschland schied nach der Gruppenphase aus, und das erste Public Viewing in Hamburg auf der Moorweide versank in einem Chaos aus Matsch und Gewalt), begannen Fußballkenner ganz bewusst damit, die Spiele der äußerst erfolgreichen deutschen U21-Nationalmannschaft zu verfolgen und schätzen zu lernen, in der kaum ein Spieler einen altdeutschen Namen trug. Die ersten Früchte dieses neuen Blickwinkels wurden dann unter dem Trainerduo der A-Nationalmannschaft Jürgen Klinsmann und Joachim Löw bei der WM 2006 geerntet, obwohl es noch vor dem Turnier massive Medienkampagnen gegen die vom Trainerstab geplanten Mannschaftsaufstellungen gegeben hatte. Vier Jahre später, als Joachim Löw den sportlichen Auftritt der deutschen Spieler bei der WM in Südafrika alleine verantwortete, machten die Boatengs, Podolskis und Khediras schon rund die Hälfte des gesamten Kaders aus. Bei der WM in Brasilien ist der Migrationshintergrund eines Spielers überhaupt kein Thema mehr. Für den Soziologen und Fußballfan Claussen ist dies vor allem ein Verdienst des DFB-Präsidenten Theo Zwanziger: „Der Deutsche Fußballbund war noch bis zur Jahrtausendwende ein reaktionärer und bürgerlicher Sportverband. Doch dieser CDU-Mann aus der Provinz (der 1992 in den DFB-Vorstand gewählt wurde und von 2004 an zunächst mit Gerhard Meyer-Vorfelder als Doppelspitze fungierte, die Red.) hat sich allen öffentlichen Anfeindungen zum Trotz stets für den Frauenfußball sowie gegen Homophobie und Rassismus eingesetzt. Und dabei hat er auch immer den Erfolg der Nationalmannschaft im Blick gehabt, der ja dann auch eingetreten ist.“

Dank seines Präsidenten (der gleichzeitig die Fanmeilen propagierte), begriff man nun auch beim DFB, dass jede Kultur, die ethnisch rein sein soll, arm und dürftig bleibt. Mittlerweile sind die Fans, die Funktionäre und die Mannschaft auf Augenhöhe; bestimmt auch am Sonnabend, „wenn wir gegen Ghana spielen“. Was Claussen sich jedoch nicht beim Public Viewing anschauen wird, sondern in seinem italienischen Stammlokal. Der Professor vermeidet das „Schlaaand-Spektakel“ ebenso wie Moritz Rinke: Ein Spiel, sagt er, könne er gemeinsam mit anderen nur genießen, wenn die auch wirklich was vom Spiel verstehen.