Nach dem 1:2 gegen Uruguay ist das Mutterland des Fußballs schon vor dem letzten Spiel ausgeschieden

São Paulo. Der Kulturbeutel passt farblich überhaupt nicht. Luis Suárez trägt einen dunklen Anzug, ein helles Hemd und eine blaue Krawatte. Staatsmann-Outfit. Und unter dem rechten Arm hält er dann ein knallbuntes Täschchen mit Kamm und Parfüm darin, darauf ein Kindergesicht gedruckt. Aber was kümmert ihn dieser Stilbruch an diesem Abend, als er von der Kabine durch die Katakomben des WM-Stadions in São Paulo Richtung Ausgang zum Mannschaftsbus schlendert? Schließlich ist es einer der größten Tage seiner Karriere.

„Das war das beste Spiel, das ich je gespielt habe“, sagt Uruguays Stürmerstar. Beim 2:1 (1:0) gegen England hatte er beide Tore erzielt, die Briten aus dem Turnier geschossen und seiner Mannschaft die Chance auf das Achtelfinale gewahrt. Ausgerechnet Suárez. Der 27-Jährige spielt für den FC Liverpool, und in diesem Jahr wählten sowohl die englischen Journalisten als auch die Spieler ihn zum Fußballer des Jahres. Mit 31 Treffern war er zuvor Torschützenkönig der Premier League geworden.

Jetzt ist er auf der Insel noch anerkannter. Beliebter hat er sich allerdings nicht gemacht. Schon in der Partie hatten die englischen Fans ihn bei jedem Ballkontakt ausgepfiffen. Nach seinem 2:1 (85.) hatten sie nicht mal mehr dafür Kraft. Sie waren geschockt und still. Weil ihre Mannschaft wieder mal enttäuschte und ideenlos spielte. Und weil sie mit Suárez, dem „Monster“ (Teamkollege Diego Godín), nun wirklich nicht gerechnet hatten. Vor erst vier Wochen hatte der Angreifer sich am linken Knie operieren lassen. Es gab Fotos von ihm im Rollstuhl. Viele meinten: Das war’s mit der WM! Im ersten Gruppenspiel gegen Costa Rica (1:3) hatte Suárez nicht gespielt. Und jetzt das. „Ich habe mir vor einigen Tagen schon vorgestellt, dass wir gewinnen und ich treffe“, so Suárez. Argentiniens Legende Diego Maradona adelte ihn prompt „zum besten Stürmer dieser WM“.

Nach der Auftaktniederlage war die Mannschaft von Experten in der Heimat hart kritisiert worden, immerhin gilt sie als Geheimfavorit. „Der Druck war so groß. Das heute war unsere Antwort“, so Suárez. Und das auch noch an einem Tag, der für sein Volk ohnehin ein ganz besonderer war: der 250. Geburtstag von José Gervasio Artigas, dem Vater der Unabhängigkeit des Landes.

Uruguays Generalsekretär Alejandro Balbi empfand nach dem Sieg Schadenfreude. „Wie ich mich freue, alle englischen Zeitungen zu kaufen!“, schrieb er auf Twitter und veröffentlichte dazu ein Foto von Suárez, auf dem dieser mit einem dicken Eisbeutel um sein Knie zu sehen ist.

Für England ist die Niederlage ein Debakel. Das nach Italiens Niederlage gegen Costa Rica besiegelte Vorrundenaus ist das erste seit 1958. Die Briten müssen schon seit Längerem erkennen, dass sie nicht mehr zu den großen Fußballnationen zählen. Schon bei der WM vor vier Jahren in Südafrika hatte es nur zum Achtelfinale gereicht, die bislang letzte Teilnahme an einem Halbfinale liegt 24 Jahre zurück; damals verloren sie gegen den späteren Weltmeister Deutschland im Elfmeterschießen...

Trainer Roy Hodgson sagte: „Das ist ein ganz schlechtes Resultat. Wir haben alles versucht, aber es hat nicht gereicht. Das ist sehr traurig.“ Möglicherweise hatte er Suárez vor dem Spiel unfreiwillig motiviert. Es reiche nicht, ein großer Spieler in einer großen Liga zu sein, hatte er betont. „Wenn man einer der Größten aller Zeiten sein will, muss man das bei einer WM zeigen. Wenn man ihn wirklich in einer Reihe mit Maradona, Pelé, Beckenbauer, Cruyff oder Pirlo sehen soll, dann ist das hier die Bühne, auf der er das beweisen muss.“ Suárez kam seiner Aufforderung nach.

Die englische Elf war damit prompt überfordert. Sie hatte gekämpft, allerdings ohne erkennbares Konzept und Überraschungsmomente gespielt. Und war in der Defensive wie schon im ersten Spiel gegen Italien (1:2) wieder enorm anfällig. Nach Suárez’ 1:0 (39.) hatte Wayne Rooneys Ausgleich (75.) den Briten eine kurze Stärkephase beschert, doch dann ließen sie Suárez erneut aus den Augen, und der wenig Sicherheit ausstrahlende Torwart Joe Hart warf sich viel zu früh auf den Boden. „Es ist so frustrierend“, sagte Englands Kapitän Steven Gerrard, der den Ball vor dem 1:2 unglücklich per Kopf in den Lauf seines Clubkameraden vom FC Liverpool verlängerte. „Auf diesem Level darfst du einem Weltklassespieler wie Suárez nicht eine einzige Chance ermöglichen“, sagte er geknickt.

Die Philosophie der „Three Lions“ schien zu lauten: Wayne muss es halt irgendwie richten. Hodgson ließ ihn in der zentralen Offensive spielen, Superstar Rooney war dort präsent und einer der besten Engländer, vergab aber vor seinem Tor drei gute Chancen.

Nach der Niederlage schlich er wortlos aus dem Stadion. Die englische Fußballlegende Gary Lineker spottete unterdessen: „Wir sind fast so schlecht wie Spanien!“ Er kann sich nicht erklären, wie Suárez so schnell spielbereit werden konnte. „Er ist ein Phänomen. Seine Leistung ist schwer zu glauben.“ Nach dem definitiven Aus am Freitagabend twitterte er: „Typisch. Was haben diese Römer jemals für uns getan?“

Hodgson schließt seinen Rücktritt schon vor dem letzten Gruppenspiel gegen Costa Rica Dienstag in Belo Horizonte nicht mehr aus. „Ich habe nicht das Bedürfnis zurückzutreten, nein. Auf der anderen Seite: Wenn der Verband meint, dass ich nicht mehr der Richtige bin…“, sagte der 66-Jährige. Der Verband stärkte dem Coach, der das Team seit zwei Jahren betreut, am Freitag den Rücken. Er soll weitermachen.