Nach 2010 treffen Jerome und Kevin-Prince Boateng mit Deutschland und Ghana zum zweiten Mal bei einer WM aufeinander

Fortaleza. Im Internet kann man ja einiges über die Wirklichkeit erfahren. Tippt man vor der zweiten WM-Gruppenpartie der deutschen Nationalmannschaft gegen Ghana am Sonnabend (21 Uhr/ARD) den Namen „Boateng“ bei Google ein, wird einem der Beisatz „Brüder“ angeboten. Vor vier Jahren noch erschienen in der Suchmaschine beim Begriff „Boateng“ automatisch die Zusätze „Ballack“ und „Foul“. „Boateng“ bei der WM in Südafrika, das war im Internet einmal allein Kevin-Prince. Das war ein rüpelhafter Halbstarker aus dem Berliner Wedding, der den deutschen Kapitän Michael Ballack mit einem fiesen Tritt im englischen Pokalfinale um das Turnier brachte. „Boateng“ und „Staatsfeind“, diese Kombination wäre den Tatsachen am dichtesten gekommen.

Doch nun steht da „Brüder“. „Ballack“ ist verschwunden. „Boateng“, das ist jetzt ein geteilter Name. Zu je gleichen Anteilen gehört er heute Kevin-Prince, 27, und seinem zwei Jahre jüngeren Halbbruder Jerome. Das Internet ist also lernfähig. Zwischen den Weltturnieren in Südafrika und Brasilien ist Jerome dort und in der Wirklichkeit beharrlich an Kevin herangewachsen. 2010 trafen beide in Johannesburg mit Ghana und Deutschland in der Vorrunde zum ersten Bruderduell in der Geschichte der Weltmeisterschaft aufeinander. Nun kommt es in Fortaleza zum zweiten Mal zu jener Begegnung in einer WM-Vorrunde. Doch die Vorzeichen haben sich radikal verändert: Es ist ein Bruderkampf 2.0.

Eine Sache nur ist gleich geblieben: „Wir haben vor dem Spiel keinen Kontakt zueinander“, erzählt Jerome Boateng. Auch 2010 herrschte Funkstille. Der Grund dafür war allerdings ein anderer: Mit dem Innenband Ballacks riss vor dem Turnier in Südafrika auch der Graben zwischen Kevin und Jerome auf. Die Söhne eines Ghanaers, bei ihren verschiedenen deutschen Müttern in Wedding und Marienfelde aufgewachsen, zerrieben sich in der medialen Lust nach der ganz großen Bruderzwist-Story. Kain und Abel auf dem Fußballplatz.

Der böse Bruder gegen den guten. Kevin hatte sich längst entschieden, für das Land seines Vaters zu spielen, weil man ihn einst als Problemkind aus der deutschen U21-Nationalmannschaft schmiss. Jerome, damals erst 21 Jahre alt, kämpfte um einen Stammplatz in der deutschen Nationalelf und wollte seine Chancen mit der Parteinahme für seinen Halbbruder nicht gefährden. Das Foul an Ballack hätte mit einer Roten Karte bestraft werden müssen, sagte Jerome. Kevin war verärgert. Als sich die Mannschaften Deutschlands und Ghanas vor dem Spiel mit einem Handschlag begrüßten, würdigten sich die Brüder keines Blickes. „Zu der Zeit haben wir sicher ein wenig gestritten“, sagt Kevin heute.

Man habe vor der Neuauflage des Bruderduells nur deshalb keinen Kontakt, „weil sich jetzt jeder auf sich selbst konzentrieren muss“, sagt Jerome. „Für uns beide aber wird es wieder ein sehr besonderes Spiel.“ Eine Partie, die diesmal im Vorfeld eine ganz andere Geschichte erzählt.

2010 noch stand Jerome im Schatten seines Bad-Boy-Bruders. Mittlerweile ist er aus diesem herausgetreten. Die WM in Südafrika war die Startrampe für seine Weltkarriere. Der damalige Verteidiger des HSV, ausgebildet bei Hertha BSC, wechselte danach zu Manchester City und von dort zum FC Bayern. Hier gewann er die Champions League, zweimal den DFB-Pokal und zweimal die Meisterschaft. War er 2010 noch bestenfalls ein Mitläufer in der deutschen Viererkette, ist er nunmehr zur festen Größe aufgestiegen.

Kevin hat sich derweil längst von seinem Rambo-Image emanzipiert. In Südafrika war der Mittelfeldspieler der herausragende Akteur im ghanaischen Team und führte die „Black Stars“ bis ins unglücklich verlorene Viertelfinale gegen Uruguay. Für ihn war 2010 der Wendepunkt in seiner Karriere, die zuvor im Abstiegskampf der englischen Premier League zu versanden drohte. Der AC Milan verpflichtete ihn nach dem Turnier, und die Tifosi nannten ihn wegen seiner Wucht später liebevoll „treno senza freni“, Zug ohne Bremsen. Nach einer viel beachteten Aktion gegen Rassismus durfte Boateng im Februar 2013 vor den Vereinten Nationen in Genf sprechen. Der Buhmann von einst war zum Botschafter geworden. Von Milan ging es zum FC Schalke. Boateng ist nun ein Weltstar und endgültig rehabilitiert in Deutschland.

Die Geschichte der Brüder Boateng ist also auch eine Geschichte zweier unterschiedlicher Wege zum Ruhm. Während Jeromes Aufstieg konstant und unaufhaltsam fortschritt, verlief er bei Kevin in Wellenbewegungen. Bedingt ist dies auch durch zwei völlig konträre Charaktere. Zwei ganz unterschiedliche Typen seien Jerome und Kevin gewesen, „fast wie Feuer und Wasser“, erinnert sich Dirk Kunert. Der 46-Jährige muss nicht lange überlegen, wenn man ihn auf die Brüder Boateng anspricht. Neun Jahre lang war Kunert Jugendtrainer bei Hertha BSC. 2003 wurde er erst mit Kevin deutscher B-Jugendmeister, zwei Jahre später mit Jerome. „Kevin war der Typ ‚natürlicher Anführer‘. Das war eine Gabe von ihm. Er musste gar nichts machen, die anderen Mitspieler sind ihm blind gefolgt“, sagt Kunert. Als einen „Rausgucker“ aus der Masse an Jugendspielern bezeichnet Kunert Kevin Boateng – als einen „geborenen Star“. Doch der frühere Ruhm hatte auch seine Tücken. Nachdem ihn Hertha für fast acht Millionen Euro an Tottenham verkaufte, Boateng sich dort aber bald in der zweiten Mannschaft wiederfand, stand seine Karriere vor dem Ende, und er musste in Dortmund und Portsmouth von vorn beginnen.

Bei Jerome dagegen ging alles etwas langsamer, aber auch weniger absturzgefährdet. Er sei ein nachdenklicher Junge gewesen, den man bisweilen auch mal aus seinem Phlegma befreien musste, erinnert sich Kunert. „Mit ihm habe ich unglaublich viele Gespräche geführt, um ihm zu sagen, wie gut er ist, dass er aber noch viel mehr kann, als er zeigt.“ Noch heute hat Kunert zu beiden regelmäßig Kontakt. Ein Anführer wie Kevin sei Jerome nie gewesen.

Daran erinnern musste sich Kunert, als Kevin Boateng vor dieser WM sagte, er glaube nicht, dass Deutschland Weltmeister werde, weil dem Team die Führungspersönlichkeiten fehlten. „Dass Kevin nicht für Deutschland spielt, ist sehr bitter. Er ist ein Anführer, der Löws Mannschaft sicher guttun würde“, sagt Kunert. Er ging später nach Leverkusen und Wolfsburg, um auch dort Jugendspieler zu entwickeln. Doch Kunert sagt noch heute: „Die Brüder Boateng waren die besten Fußballer, die ich je trainiert habe.“