Spaniens Fußballherrschaft endet bereits in der WM-Vorrunde. Das Team sucht die Schuld nur bei sich selbst. Der große Xavi wechselt nach Katar

In der 76. Minute war das Ende einer Ära besiegelt. Nationaltrainer Vicente del Bosque nahm in der Partie gegen Chile seine dritte Auswechslung vor. Cazorla kam für Pedro, so wie vorher schon Koke für Xabi Alonso und Torres für Diego Costa. Nur Xavi kam nicht mehr. Xavi hatte auch nicht in der Anfangsformation gestanden. Als das große Spanien zugrunde ging, war er nicht mit von der Partie. Obwohl es doch sein Spanien war.

Wenn etwas aufhört, lohnt sich noch einmal der Blick auf den Anfang. Das goldene Zeitalter begann, als Trainer Luis Aragonés vor der Europameisterschaft 2008 eine Grundsatzentscheidung traf und Xavi in den Mittelpunkt des Spiels rückte: „Hier bestimmen jetzt Sie“, sagte er. Fortan lief der Ball immer schneller als der Gegner. Tiki-Taka. Spanien passte die Gegner in Grund und Boden, immer orchestriert von Xavi, dem Spielmacher des FC Barcelona, über dessen Bedeutung für die „Selección“ es hieß: Geht es Xavi gut, dann geht es Spanien gut. Es ging ihm lange gut. Spanien gewann die EM 2008, die WM 2010, die EM 2012.

In Brasilien ging es Xavi schlecht, und Spanien war gegen Chile nicht besser ohne ihn als gegen Holland mit ihm. Das 0:2 komplettierte die größte Demontage eines Weltmeisters in der Geschichte des Spiels. Auch Frankreich 2002 und Italien 2010 scheiterten in der Vorrunde, die Franzosen schossen dabei nicht mal ein Tor und die Italiener gewannen nicht mal gegen Neuseeland. Aber null Punkte und 1:7 Tore aus den ersten zwei Spielen? Als erstes Team, parallel mit Australien, aus der WM ausgeschieden? Das klingt noch dramatischer, schon weil Spaniens Gipfel viel höher war. „Wir waren ganz oben, und jetzt sind wir ganz unten. Es ist grausam, wir hatten große Illusionen“, sagte Xavis kongenialer Teamkollege bei Barça, Andrés Iniesta.

Es hat sie offenbar völlig unvorbereitet getroffen. Natürlich war die Saison lang, grade für die Spitzenkräfte aus Barcelona und Madrid. Und dennoch: „Wir waren auch in Polen und Südafrika müde, aber wir haben gewonnen“, erinnerte Fernando Torres. Der tragische, große Torwart und Kapitän Iker Casillas räumte ein: „Das Engagement war nicht so, wie wir es alle wollten. Die Realität ist, dass die Mannschaft es nicht verdient hat weiterzukommen.“

Aber warum? „Wenn ich an die 25 Tage denke, in denen wir zusammen waren, und an den Geist, der dort herrschte – ich hätte nicht geglaubt, dass wir in der Gruppenphase ausscheiden“, sagt Del Bosque. Er wirkt mitgenommen, geschockt. Nach der EM 2008 hatte er das Erbe von Aragonés übernommen und es so fein justiert, dass Spanien von allen gejagt, aber nie erreicht wurde. Ja, er ist ein Mann des Bewährten. 16 der 23 WM-Fahrer waren schon vor vier Jahren in Südafrika dabei. Aber es war nicht so, dass er nichts unternommen hätte, um das Team in Bewegung zu halten. Die Einbürgerung von Stürmer Diego Costa etwa.

Woran lag es also? An Selbstzufriedenheit? An Casillas, an Xavi? An der Abwehr, der Chancenverwertung? Zunächst einmal: am Fußball.

Der Fußball ist manchmal so, er schafft irrwitzige Dynamiken, und besonders gern wirft er seine eigenen Gewissheiten über den Haufen. Die epochale zweite Halbzeit gegen die Niederlande mit vier Gegentoren hallte auch am Mittwoch im Maracanã noch nach. Dort, wo sich bereits vor einem Jahr im Finale des Confed-Cups gegen Brasilien (0:3) erstmals das mögliche Ende angedeutet hatte.

Spanien, sowieso schon verunsichert, sah sich im diesigen Nachmittagslicht von Rio de Janeiro auch noch einem Auswärtsspiel gegenüber, als ein Stadion voller Chilenen mit Furcht einflößender Inbrunst die Nationalhymne schmetterte. Zu viel des Examens. Wenige Stunden, bevor zu Hause Juan Carlos um Mitternacht seinen Thron formal an König Felipe VI. übergab, wurde der Weltmeister vom Thron gestoßen. Spanien ließ sich abkochen von den giftigen Chilenen. „In der ersten Halbzeit waren wir schüchtern“, erklärte Del Bosque in der Presskonferenz. „Sehr, sehr schüchtern“, wiederholte er ein paar Minuten später. „Fast feige“, sagte er schließlich.

Wer genau hinschaute, mochte schon in den letzten Wochen ein paar kleine Indizien dafür entdeckt haben, dass sich die Dekadenz, die Del Bosque so erstaunlich lange hatte verhindern können, hier und da doch ausbreitete. Im Teamquartier von Curitiba zum Beispiel dominierte an den Wänden die Heldenikonografie: Bilder von den größten Erfolgen der Spieler. Vor zwei Jahren in Gniewino/Polen hatten an den Eingängen noch Plakate mit tugendhaften Botschaften gehangen („Geschichte gewinnt keine Titel, Demut schon“). Auch dass Profis wie Cesc Fàbregas oder Diego Costa während der WM ihre Wechsel zu Chelsea einspielen bzw. vorantreiben ließen, war kein Zeichen für volle Konzentration.

Die meisten Spieler bestritten nach dem Ausscheiden jedwede Form von Selbstzufriedenheit im Team, nur einer wich von diesem Diskurs ab, Xabi Alonso. „Wir haben es nicht verstanden, den Hunger beizubehalten“, sagte der Routinier von Real Madrid. „Wir haben diese Präsenz verloren, die uns so viele Spiele gewinnen lassen hat.“

Doch die soll bald wieder zurückkehren. Mit einer neuen Auswahl. Das Material dafür ist allemal gegeben, wie die fortgesetzten Titelgewinne bei den Junioren zeigen. Bayern Münchens verletzt fehlender Thiago, Torhüter David de Gea, Juan Mata (beide Manchester United), Koke (Atlético) oder Isco (Real) haben die Qualitäten. „Es kommt eine große Generation nach“, sagte Fernando Torres, der zu den Spielern gehört, deren Zukunft in der Nationalelf zumindest fraglich ist. Casillas hielt sich die Entscheidung offen, Xavi wird nach dem letzten Spiel gegen Australien am Montag sicher gehen., Alonso wohl auch, David Villa sowieso.

Del Bosque wiederum unterschrieb vor dem Turnier eine Vertragsverlängerung bis 2016, an der von Verbandsseite trotz des Fiaskos nicht gerüttelt werden dürfte. Womöglich gibt er aber von selbst sein Amt auf. „Wenn so etwas bei einer WM passiert, hat das Konsequenzen. Wir müssen jetzt nachdenken, was das Beste für den spanischen Fußball ist, inklusive meiner Rolle.“

Sprach es und verabschiedete sich mit dem Anstand, der ihn immer auszeichnete. So wie sein Team, das ohne Frustfouls ging, ohne Gereiztheit oder Verschwörungstheorien. Durch die Vordertür, trotz der schlimmen Ergebnisse, eine einmalige Generation von Fußballern, die „mehr für den Fußball getan haben als alle anderen“, wie Chiles Alexis Sánchez sagte.

Der große Xavi wird nach 23 Jahren den FC Barcelona verlassen und seine Karriere in Katar ausklingen lassen. Acht Millionen US-Dollar soll er bei Al Arabi im Wüstenstaat jährlich verdienen. Der wohl wichtigste Spieler, den Spanien je hatte, verschwand nach dem Chile-Debakel wortlos. Sein stiller Abgang war das Traurigste dieser Nacht, in der eine Ära endete, weil es eben so kommen musste.