Nach dem Sieg im Dschungelspiel gegen England fordern die Italiener Auszeiten

Manaus. Nach dem ersten erfolgreichen WM-Flirt seiner Karriere dachte der frisch verlobte Mario Balotelli nur noch an seine wahre Herzensdame. „Ich widme den Sieg meiner künftigen Frau, und bin sehr glücklich“, sagte der Matchwinner der Italiener nach dem denkwürdigen 2:1 (1:1) gegen England, der der Squadra Azzurra vier Jahre nach dem bitteren Vorrunden-Aus in Südafrika einen traumhaften Start in das Turnier bescherte.

Viel mehr wollte WM-Debütant Balotelli, 23, nach seinem entscheidenden Kopfballtor (50.) dann auch gar nicht mehr sagen. Außer: „Es ist ein einzigartiges Gefühl, ich habe noch nie bei einer WM gespielt, das ist jetzt fantastisch.“ Dann zog der streitbare Stürmer des AC Mailand, der dem Model Fanny Neguesha sechs Tage zuvor am Strand von Rio de Janeiro einen Heiratsantrag gemacht hatte, mit schwarzem Basecap auf dem Kopf und dicker Goldkette um den Hals von dannen.

Italiens Nationaltrainer Prandelli meinte, eine Schlacht gewonnen zu haben

Sein Trainer Cesare Prandelli dagegen kam nach dem hochklassigen Dschungel-Kick in der schwülen Amazonas-Metropole Manaus und dem ersten WM-Sieg seit 2006 aus dem Schwärmen gar nicht mehr heraus. „Das war ein episches Spiel, an das wir uns das ganze Leben erinnern werden“, sagte der 56-Jährige. Bei zunächst 31 Grad und 61 Prozent Luftfeuchtigkeit gab es kein Abtasten. Was den Spielern viel abverlangte. „In einigen Momenten dachte ich, ich hätte Halluzinationen“, sagte Mittelfeldspieler Claudio Marchisio, der das 1:0 erzielt hatte (35.). Die Engländer taten sich jedoch schwerer mit den Verhältnissen. „Sie waren physisch nicht so gut vorbereitet wie wir, hatten Krämpfe“, so Pandrelli. Er wünscht sich trotzdem eine Reaktion des Weltverbandes. „Wenn wir Unterhaltung wollen, dann brauchen die Spieler auch die Energie, um diese bieten zu können“, sagte der Italiener und forderte vehement Auszeiten, um den Spielern Trinkpausen zu ermöglichen.

Prandelli war stolz auf seine Mannschaft, das war nicht zu überhören. „Wir haben gelitten, wir hatten Schmerzen. Aber unsere Antwort darauf war unglaublich. Wir haben die Schlacht gewonnen“, erzählte er. Gegen die vom überragenden Teenager Raheem Sterling, 19, angeführten jungen Wilden von der Insel machten vor allen Dingen Regisseur Andrea Pirlo und eben Balotelli den Unterschied.

Der 35-jährige Pirlo zog im Mittelfeld gekonnt die Fäden und zeigte seine Klasse, als er vor dem 1:0 durch einen Weitschuss von Marchisio raffiniert den Ball passieren ließ. Die ziemlich frechen „Three Lions“ konnten zwar postwendend durch Stürmer Daniel Sturridge (37.) ausgleichen, doch der Weltmeister von 1966 stand am Ende trotz starker Leistung mit leeren Händen da. „So was ist grausam auf diesem Niveau. Wir haben so viel reingeworfen in dieses Spiel und nichts dafür gekommen“, haderte Kapitän Steven Gerrard. Spätestens durch die Einwechslungen von Ross Barkley, 20, und Jack Wilshere, 22, erinnerten die Engländer mit mit zunehmendem Spielverlauf wie ein Haufen verspielter Löwenbabys: voller Tatendrang, mit reichlich Potenzial versehen, aber noch nicht zielorientiert genug, nicht bissig genug, um dem Gegner, der zeitweise Standfußball präsentierte, Schmerzen zuzufügen.

Beim Ausgleich der Engländer ereignete sich eine dramatische Szene. Beim Jubeln mit Teammitgliedern landete Physiotherapeut Gary Lewin unglücklich auf einer Wasserflasche und renkte sich dabei das linke Sprunggelenk aus. Die Verletzung wurde noch auf dem Platz gerichtet, dennoch wurde Lewin mit einer Trage abtransportiert und ins Krankenhaus gebracht.

Die Engländer, die seit 1990 auf eine Halbfinalteilnahme bei einer WM warten, stehen vor dem zweiten Gruppenspiel am Donnerstag gegen Uruguay (1:3 gegen Costa Rica) in São Paulo mit dem Rücken zur Wand. „Wir müssen unsere Köpfe nach oben nehmen“, forderte Teammanager Roy Hodgson und sprach seinen Profis Mut zu: „Diese Vorstellung gibt uns großes Selbstvertrauen. Wir haben alles in der eigenen Hand. Wenn wir die Leistung wieder bringen, haben wir gute Chancen.“

In England begannen Debatten, ob Rooney aus der Startelf muss

Positiv wurde die Leistung auch von anderen aufgenommen. „Mit diesen jungen Stars und ihrem furchtlosen Auftreten ist die Zukunft des englischen Fußballs rosig“, sagte Ex-Nationalspieler und Chefkritiker Gary Lineker, der bei der letzten WM-Startniederlage der Engländer 1986 selbst auf dem Platz stand. Immerhin wurde damals noch das Viertelfinale erreicht. Nur mit Superstar Wayne Rooney war man in der Heimat nicht zufrieden, in der Presse wurden Debatten darüber angeheizt, ob er noch in der Startformation stehen sollte. Dabei hatte er den Treffer per Flanke vorbereitet und trug so zum flotten Spiel bei.

Neben Sterling vom FC Liverpool wirbelten auch Vereinskollege Daniel Sturridge, 24, und Danny Welbeck, 23, von Manchester United die Abwehr der zunächst überforderten Italiener durcheinander. Nichts war mehr zu sehen vom statischen Insel-Kick von einst. „Früher haben sie viel mit hohen Bällen agiert, jetzt ist das ganz anders“, lobte Italiens Coach: „Sie haben einige Spieler mit unglaublichen Sprinterqualitäten.“ Doch die Südeuropäer konnten gut damit umgehen. „Wir haben heute ein mutiges Italien gesehen. Es war ein wichtiger Sieg auf unserem Weg“, sagte Pirlo, der mit seinem Team am Freitag gegen Costa Rica antritt.

Den Blick bereits darauf gerichtet, bremste Prandelli allerdings die aufkommende Euphorie um Balotelli, der die deutsche Mannschaft im EM-Halbfinale 2012 (1:2) mit seinen beiden Treffern eliminiert hatte. „Mario kann mehr, als er heute gezeigt hat. Er muss weiter daran arbeiten, sein enormes Potenzial auszuschöpfen“, mahnte der Trainer nach dem 13. Tor im 31. Länderspiel des Enfant Terrible.

England: Hart – Johnson, Cahill, Jagielka, Baines – Henderson (ab 73. Wilshere), Gerrard – Welbeck (ab 61. Barkley), Sterling, Rooney – Sturridge (ab 80. Lallana). Italien: Sirigu – Darmian, Barzagli, Paletta, Chiellini – De Rossi – Verratti (ab 57. Motta), Pirlo – Candreva (ab 79. Parolo), Marchisio – Balotelli (ab 73. Immobile). Schiedsrichter: Kuipers (Niederlande). Zuschauer: 39.800. Tore: 0:1 Marchisio (35.), 1:1 Sturridge (37.), 1:2 Balotelli (50.). Gelb: Sterling.