Der Bundestrainer verändert seine WM-Taktik, lässt Philipp Lahm im Mittelfeld auflaufen – zum Nachteil von Bastian Schweinsteiger oder Sami Khedira

Santo André. Philipp Lahm wird es im Lager der deutschen Nationalmannschaft in Santo André ziemlich bequem gemacht. Zwar muss sich auch der Kapitän des Teams mit dem Umstand arrangieren, dass man im Campo Bahia in studentischen Verhältnissen lebt – je sechs Spieler teilen sich einen Bungalow. Doch dem 30-Jährigen kommen natürliche Privilegien zuteil: Ob er sich, so als Häuptling, denn wenigstens von den anderen fünf Kameraden in der Wohngemeinschaft was hinterhertragen lasse, wurde Lahm gefragt. Der grinste lausbubenhaft: „Sie müssen vielleicht mal mein Bett machen und mich beim Billard bespaßen. Aber sonst bin ich da eigentlich ganz pflegeleicht.“

Bundestrainer Joachim Löw hat sich dennoch entschieden, es seinem Spielführer so angenehm wie möglich zu machen. Dazu gehört vor allem die klar definierte Aufgabenbeschreibung. „Philipp hat beim letzten Test gegen Armenien im Mittelfeld gespielt. Ich bin ziemlich sicher, dass er das auch am Montag gegen Portugal tun wird“, sagte Löw. Lahms Wunsch nach einer dauerhaften Versetzung in die Zentrale ist ganz im Sinne des Bundestrainers. Lange hatte der 54-Jährige darüber gegrübelt, wie es in Brasilien – unter den schwierigen klimatischen Bedingungen insbesondere – gelingen kann, den ersten WM-Titel seit 24 Jahren zu gewinnen. Herausgekommen ist dabei eine kleine, aber entscheidende Veränderung seiner Taktik.

Noch bei der WM 2010 in Südafrika und bei der EM 2012 in Polen und der Ukraine ließ er sein Team in einem 4-2-3-1-System auflaufen – mit zwei defensiven Mittelfeldspielern auf der „Doppelsechs“ (Sami Khedira und Bastian Schweinsteiger), einem klassischen Spielmacher auf der „Zehn“ (Mesut Özil) und nur einem Stürmer (Miroslav Klose bzw. Mario Gomez). Das war „State of the Art“ zu jener Zeit und wurde von den meisten großen Mannschaften gespielt. Bis auf Italien natürlich, das vor zwei Jahren mit zwei Stürmern antrat und sich im Halbfinale für die deutsche Auswahl als zu groß erwies.

Für dieses Turnier aber, das am Montag für Löws Team mit dem ersten Gruppenspiel gegen Portugal in Salvador beginnt, hat sich der Schwarzwälder eine andere Variante erdacht: Er wird ein 4-3-3-System spielen lassen. Die klassische Doppelsechs im Mittelfeld verschwindet, an ihre Stelle tritt ein Trio aus flexibel agierenden Ballverteilern. „Versetzt im Mittelfeld“, nennt Löw das. Einen reinen Abräumer vor der Abwehr will er nicht sehen. Das Dreiergespann soll sich variabel im Raum bewegen, den Herzschlag des Spiels vorgeben und gern auch immer mal wieder die Positionen tauschen.

Damit kommt der Bundestrainer der Linie Pep Guardiolas ziemlich nahe – seinem Bruder im Geiste, was die Liebe zum schönen Spiel betrifft. Auch der Spanier hatte in München stets ein variables, zentrales Mittelfeld aufgestellt, das für den ballbesitzorientierten Fußball der Bayern am ergiebigsten war. Philipp Lahm – klein, wendig und nahezu fehlerfrei im Passspiel – erwies sich für diesen Kombinationsstil als perfekter Athlet vor der Abwehr.

Löw allerdings plant keine Kopie des Guardiola-Fußballs bajuwarischer Prägung – trotz des massiven Bayern-Blocks aus sieben Münchnern in seinem Team. Um sich in drückender Hitze und unter dem Einfluss der hohen Luftfeuchtigkeit in Brasilien bis ins Finale vorzuspielen, will der Bundestrainer die zwei maßgeblichen Stile in Deutschland, ja im Weltfußball überhaupt, kombinieren: den Ballbesitzfußball des FC Bayern und das schnelle Konterspiel Borussia Dortmunds.

Für Joachim Löw wird es darum gehen, in unterschiedlichen Phasen des Spiels unterschiedliche Manöver vorzutragen. „Wir haben die Fähigkeit, viele verschiedene Stile spielen zu können: Ballbesitz und auch mal Konterfußball“, sagt Lahm. Das besondere Merkmal seiner Mannschaft sei, dass dafür nicht einmal das Personal ausgetauscht werden müsse, „denn die gleichen Spieler können beides spielen“.

Auf Löw allerdings kommen bis zum Portugal-Spiel schwierige Entscheidungen zu. Denn für seine bevorzugte Mittelfeldvariante hat er mindestens fünf hochkarätige Profis im Kader, die allesamt Ansprüche auf einen Stammplatz erheben: Lahm, Khedira, Schweinsteiger, Toni Kroos und Özil.

Schweinsteiger und Khedira sind nach Verletzungen noch nicht wieder bei hundert Prozent. Dass es Kroos treffen könnte wie noch bei der WM 2010 und EM 2012, als er zunächst nur Ergänzungsspieler war, ist unwahrscheinlich. Kroos werde „eine ganz andere Rolle als 2012 spielen“, sagte Löw.

Seine Wertschätzung für den eleganten Ballverteiler, der in der Bundesliga und der Champions League der vergangenen Saison stets die meisten Pässe spielte, ist in den vergangenen zwei Jahren enorm gestiegen. Spielt Kroos also vor oder neben Lahm, dann bliebe noch ein einziger Platz übrig. Özil könnte auf die „Falsche Neun“ im Angriff oder die rechte Seite ausweichen, je nachdem wo Thomas Müller gebraucht wird. Das hieße: Khedira oder Schweinsteiger. Fest steht: Mindestens einen prominenten Bankangestellten wird es geben.