Der gerade erst 22 Jahre alte Tempodribbler soll der Topstar der WM werden. Darauf hoffen jedenfalls die Brasilianer – und seine Sponsoren

Teresópolis/São Paulo. Das Drumherum scheint den jungen Burschen mit dem gewöhnungsbedürftigen Irokesenhaarschnitt gar nicht zu stören. Er kennt das ja: hier mal kurz grinsen, dort noch mal lächeln. Und gerne noch ein Foto von der Seite. „Neymar!“, „Neymar!“, schreien die euphorisierten Fotografen und Kameraleute hinter der Absperrung. Ein Waschmittel, ein Kakaohersteller, eine Bank und nicht zuletzt ein Rasierschaum werden vermarktet. Mit dem gelb-grünen Trikot kann man in Brasilien in diesen Tagen nahezu alles verkaufen. Nach fünf Minuten hat aber Neymar-Neymar beim offiziellen Sponsorentermin der Seleção in Granja Comary im beschaulichen Teresópolis genug gestrahlt. Gemeinsam mit Oscar, seinem gleichaltrigen Offensivpartner vom FC Chelsea, pflanzt sich der 22 Jahre alte Superstar in einen der Ledersessel eines Spielekonsolen-Sponsors – und daddelt ein Fußball-Videospiel. Für Neymar da Silva Santos Júnior ist das ganze Leben eben nur ein Spiel.

Mit neun Jahren wurde der Zauberfußballer am Strand entdeckt, mit elf Jahren ein Talentspäher des FC Santos auf ihn aufmerksam. Und mit 14 Jahren hatte Neymar sein erstes Probetraining bei Real Madrid. Mit 19 Jahren wurde der Sohn eines Automechanikers erstmals Südamerikas Fußballer des Jahres. Mit 21 Jahren wechselte er zum FC Barcelona. Und mit 22 Jahren soll das Ausnahmetalent nun eine ganze Nation tragen, Euphorie erzeugen und ganz nebenbei noch Weltmeister werden.

Und Neymar? Der milchbubige Fußballer umklammert seine Spielekonsolen-Bedienung und freut sich wie ein kleines Kind, weil er gegen Kumpel Oscar gerade ein Tor geschossen hat.

„Ohne Zweifel ist Neymar der beste Fußballer Südamerikas“, sagt José Ely de Miranda, in Brasilien nur als Zito bekannt. „Wenn er sich einfach nur auf Fußball konzentriert, wenn er nicht herumspielt und wenn er ernst bleibt, dann können wir Brasilianer Weltmeister und Neymar der beste Fußballer der Welt werden.“ Nur bleibt Neymar nicht gerne ernst.

Zito sitzt auf einer Bühne im Sesc Pompeia, einem Veranstaltungszentrum im Zentrum São Paulos. Gleich soll der frühere Nationalspieler ein paar Anekdoten aus seiner langen Karriere zum Besten geben. Nur das grelle Scheinwerferlicht blendet ihn noch. Dreimal, 1958, 1962 und 1966, nahm er an einer Weltmeisterschaft teil. Zweimal, 1958 und 1962, brachte er den WM-Pokal in die Heimat mit. Der frühere Mittelfeldstar war es, der Pelé mit seinen Pässen in Szene setzte. Doch bekannt ist Zito in ganz Brasilien heute vor allem aus einem Grund: Neymar.

„Ein Anhänger von Santos sagte mir, dass es da so einen Jungen gibt, den ich mögen würde“, erzählt Zito, der seinerzeit Nachwuchsleiter beim Pelé-Club FC Santos war. Elf Jahre alt war Neymar damals gewesen. „Ich bin dann mit einem Freund zum Platz gegangen und konnte gar nicht glauben, was ich da sah. Dieser Junge erfüllte meine Augen mit Freude“, erinnert sich der heute 81-Jährige, dessen Augen bei den Erzählungen wässrig werden. Er sei dann sofort zu Santos’ Präsidenten Marcelo Teixeira gegangen und habe ihm gesagt, dass man diesen Zauberjungen holen müsse, bevor es ein anderer tun würde. Neymar sei winzig gewesen, aber er habe das gewisse Etwas gehabt, sagt Zito, der dann auch noch bei Neymars Mutter und Vater vorsprach.

Zitos Wort hat in Santos Gewicht. Der einstige Mittelfeldstar, der 15 Jahre lang beim FC Santos gespielt hat und später auch noch Manager des brasilianischen Traditionsvereins wurde, hatte bereits Robinho und den früheren Bremer Diego entdeckt. Doch mit Neymar, da war sich Zito schon damals sicher, war ihm ein historischer Glücksgriff gelungen. „Ich wusste schon damals, dass er das Zeug zum Weltstar hatte.“

Weil es damals bei Santos noch keine entsprechende Altersklasse für den Youngster gab, wurde eilig eine geschaffen. Auch einen eigenen Agenten hatte der Dreikäsehoch schnell an seiner Seite. Mit zwölf Jahren unterschrieb Neymar seinen ersten Vertrag. 450 Reais, etwa 150 Euro, betrug sein erstes Gehalt. Doch eigentlich wollte das Supertalent schon damals nur spielen.

Neun Jahre ist das nun her. Heute ist Neymar einer der bestbezahlten Fußballer der Welt. Zehn Millionen Euro kassiert der Hochgeschwindigkeitsfußballer pro Jahr, die kaum noch zu zählenden Werbemillionen noch gar nicht mit eingerechnet. Inklusive Handgeld und Steuernachzahlungen soll Neymar bei seinem Wechsel nach Spanien vor einem Jahr 99,7 Millionen Euro gekostet haben. Der FC Barcelona schrieb seine Ablöse nach Unterzeichnung eines Fünfjahresvertrags gar auf aberwitzige 190 Millionen Euro fest.

Doch abgesehen vom Finanziellen scheint sich in den vergangenen Jahren nicht viel geändert zu haben. Noch immer habe er nur Fußball, Videogames und Blödsinn im Kopf, sagte Neymars Cousine Patty dem Magazin „Stern“.

Davon konnten sich auch weit über 100.000 YouTube-Nutzer überzeugen, die einen 79-Sekunden-Clip vom letzten Test der Seleção vor der direkten WM-Vorbereitungsphase zu einem echten Hit machten. Gleich dreimal traf Neymar beim 5:0-Sieg im März gegen Südafrika. Doch keines seiner drei Tore verbreitete sich derart schnell im Netz wie die Geschehnisse nach der Partie: Als ein kleiner Junge, etwa in dem Alter, als Neymar beim Fußballspielen am Strand entdeckt wurde, auf das Feld stürmte und von etwas rüden Sicherheitskräften wieder runtergetragen werden sollte, schritt der Peter-Pan-Fußballer ein. Neymar schnappte sich seinen neuen Spielkameraden, nahm dessen Handy und ließ sich am Mittelkreis von Teamkollege David Luiz fotografieren. Und während der kleine Südafrikaner etwas schüchtern wirkte, lachte Neymar so vergnügt, als ob er dem Klassenlehrer gerade einen ziemlich gelungenen Streich gespielt hätte.

Ziemlich gut gelingen muss aber vor allem seine Performance auf dem Rasen. An guten Tagen ist Neymar so schnell, quirlig und wendig wie nur wenige andere Fußballer auf diesem Planeten. Der wohl letzte Vertreter des „jogo bonito“, des schönen Spiels, das die Brasilianer traditionell fordern, tanzt dann so leichtfüßig über das Fußballfeld wie die Sambatänzer im Februar beim Karneval in Rio de Janeiros aufgeheiztem Sambódromo.

„Er ist ein Ausnahmetalent“, lobt auch Pelé, den Neymar am besten beerben soll. Doch wenn der designierte Nachfolger des „rei do futebol“, des Königs des Fußballs, mal keine Lust hat, dann kann er das ganze brasilianische System ins Wanken bringen. Dann wirkt er eher wie ein Zirkusclown, der seine rote Nase vergessen hat und dem die Pointen ausgegangen sind.

Weltspitze ist dieser „Rotzlöffel“, wie ausgerechnet Argentiniens Diego Maradona Neymar nannte, noch vor seiner ersten Ballberührung bei einer WM in Sachen Vermarktung. Mit dem Gesicht des „Social-Network-Kicker“ (FAZ), dessen eher banales Gezwitscher tatsächlich mehr als zehn Millionen Fans bei Twitter lesen, werden in Brasilien Shampoo, Autos, Fernsehgeräte, Bonbons, Unterwäsche und Handys verkauft.

Insgesamt sind es mittlerweile zwölf Unternehmen, die Neymar als Testimonial für ihre Produkte benutzen. Und nach der WM, dafür wird der umtriebige Marketingexperte Eduardo Musa schon sorgen, sollen es noch mehr werden. Neymar hatte Gastauftritte bei den in Brasilien so verehrten TV-Seifenopern, den Telenovelas, und es gibt eine Comicserie mit dem Namen „Neymar Jr.“

Doch die Weltmeisterschaft ist kein Zeichentrickfilm. Und auch keine Telenovela. Nur wenn sich Neymar auf dem Rasen genauso gut schlägt wie beim Videospiel gegen Kumpel Oscar, geht sein Fußballmärchen in die Verlängerung. Es ist an der Zeit, erwachsen zu werden. Sogar für Neymar.