Der frühere Bundesliga-Star Zé Roberto spricht über Angst und Druck im entscheidenden Spiel, Ronaldos Krampfanfall bei der WM 1998, Brasiliens Sicherheitsprobleme und den Niedergang des HSV

Der Taxifahrer flucht. Diese ganzen Baustellen, sagt er, da müsse man sich doch verfahren. Und dann regne es auch noch, als ob es kein Morgen mehr gäbe. Das Navigationssystem empfiehlt ein Abbiegen nach rechts in 60 Metern, doch die Straße ist gesperrt. Dann eben links, sagt der Taxifahrer und flucht weiter. Nach 15 Minuten Irrungen und Wirrungen in einem wenig einladenden Neubaugebiet von Porto Alegre hält er schließlich vor einem Hochhaus. „Rua Valdir Antonia Lopes Nummer 199, hier ist es“, sagt er. Und wirklich: nach einer kurzen Bestätigung durch den Pförtner ist klar, dass hier Zé Roberto wohnt.

Nach knapp fünf Minuten in der Lobby öffnet sich die Fahrstuhltür und Zé Roberto tritt grinsend heraus. „Oi, como está o meu Hamburgo“, fragt der 39 Jahre alte Fußballveteran. Hallo, wie gehts meinem Hamburg? 54-mal spielte er für den HSV in der Bundesliga, 169-mal für Bayern München und 113-mal für Bayer Leverkusen. Seine Karriere lässt der 91-fache Nationalspieler Brasiliens nun in der Heimat bei Grêmio Porto Alegre ausklingen.

Hamburger Abendblatt:

Zé Roberto, bedeckter Himmel und Regen – nimmt man Porto Alegres Wetter als Maßstab, hätten Sie in Hamburg bleiben können.

Zé Roberto

(lacht): Das stimmt. In Brasilien beginnt so langsam der Winter. Im Süden wird es dann kühler, und es regnet viel. Meistens ist das Wetter in Porto Alegre aber ganz gut, insgesamt klar besser als in Hamburg.

Sportlich gesehen hat die Sonne beim HSV schon lange nicht mehr geschienen. Wird sich das an diesem Wochenende mit dem Abstiegsendspiel in Mainz ändern?

Zé Roberto:

Das muss es. So ernst war die Situation noch nie beim HSV. Selbst in Brasilien bekomme ich mit, dass man sich nicht nur im Verein und unter den Fans Sorgen macht. Ganz Hamburg scheint ja in einem Schockzustand zu sein. Ich habe auch das Gefühl, dass die ganze Bundesliga den erstmaligen Abstieg des HSV gar nicht begreifen könnte. Und da ich ja nun mal zwei Jahre für den HSV gespielt habe, bleibt mir nichts anderes übrig, als aus der Ferne als einer von Tausenden HSV-Fans zu zittern. Wie sagt man doch gleich? (Auf Deutsch:) Ich drücke die Daumen.

Wie werden Sie sich 10.000 Kilometer von Mainz entfernt über das Finale um den Klassenerhalt informieren?

Zé Roberto:

Wegen des Zeitunterschieds beginnt das Spiel bei uns um 10.30 Uhr, da muss ich trainieren. Aber sofort danach schaue ich im Internet nach. Der HSV ist doch der einzige Verein, der 50 Jahre lang immer in der Bundesliga war, oder? Da ist das Spiel gegen Mainz ein echtes Finale.

Sie haben viele Endspiele bestritten, waren im Champions-League-Finale gegen Real Madrid auf dem Rasen und beim WM-Endspiel 1998 zwischen Brasilien und Frankreich auf der Bank dabei. Kann man Hamburgs Finale um den Ligaverbleib damit überhaupt vergleichen?

Zé Roberto:

Ja und nein. Der HSV hat ein Endspiel vor sich, aber anders als beim Champions-League- oder WM-Finale haben die Hamburger nichts zu gewinnen, sondern nur ganz viel zu verlieren. Ich habe aber „nur“ darum gespielt, nach 90 oder 120 Minuten einen Pokal in die Höhe zu stemmen. Da war der Druck schon enorm. Aber ich kann mir vorstellen, dass ein Abstiegsendspiel sogar noch intensiver als ein WM-Finale ist. Bei einem WM-Endspiel ist man nervös, der Druck ist groß, aber man hat keine Angst. Dass dürfte in Mainz anders sein.

Was war das wichtigste Endspiel Ihrer Karriere?

Zé Roberto:

Obwohl ich nur auf der Bank saß, war das WM-Finale von 1998 gegen Frankreich für mich mein speziellstes Endspiel. In Brasilien ist der Vizetitel nicht viel wert. Es ging also darum, ein Held oder ein Versager zu sein. Und aus mehreren Gründen war die Aufregung in der Kabine vor dem Spiel so groß wie ich es nie wieder in meiner Karriere erlebt habe.

Können Sie diese Stimmung beschreiben?

Zé Roberto:

Es war unbeschreiblich. Nur wenige Stunden vor dem Anpfiff erlitt Ronaldo, unser bester Stürmer damals, im Hotel plötzlich Krämpfe. Er musste dann sogar ins Krankenhaus, und unser Nationaltrainer Mário Zagallo bestimmte Edmundo als Ersatz. Das war natürlich für alle Spieler ein schlimmer Schock. Und als wir dann im Stade de France in Paris waren, stand 20 Minuten vor dem Anpfiff plötzlich Ronaldo in der Umkleide und sagte, dass er spielen wolle.

Das muss doch zunächst mal eine gute Nachricht gewesen sein.

Zé Roberto:

Schon, aber der Druck und die Aufregung vor dem WM-Finale ohne Ronaldo waren schon riesig. Doch plötzlich machten sich alle nur noch Gedanken, ob Ronaldo nun spielen soll oder nicht. Diese Anspannung war auch auf der Bank zu spüren – und letztendlich haben wir dann ja auch verloren.

Können Sie sich noch erinnern, wie Sie damals Ihre Anspannung bekämpft haben?

Zé Roberto:

Es war schwierig, ich war ja noch sehr jung. Aber man lernt auch aus solchen Momenten. Ich habe danach noch viele Endspiele bestritten. Irgendwann findet man den richtigen Weg für sich, mit dem Druck umzugehen.

Wie machen Sie das heute?

Zé Roberto:

Wie hat noch mal mein alter Mannschaftskollege Oliver Kahn gesagt? Man braucht einen Tunnelblick. Ich schalte alles drumherum aus, konzentriere mich nur auf die 90 Minuten.

Schläft man anders vor einem Finale?

Zé Roberto:

Gott sei Dank habe ich einen sehr gesegneten Schlaf. Selbst vor ganz wichtigen Spielen schlaf ich in null Komma nix ein.

Sie sind sehr gläubig. Darf man für ein Endspiel beten?

Zé Roberto:

Klar darf man das. Ich bete vor jedem Spiel, das hilft mir auch, entspannt und gelassen zu bleiben. Man betet dann aber nicht, dass man ein Spiel 2:0 gewinnt. Es geht vielmehr darum, Gott für das bestmögliche Spiel und für eine Partie ohne schlimme Verletzungen zu bitten.

Manche Vereine versuchen Spieler mit einer zusätzlichen Prämie zu motivieren. Hilft so etwas tatsächlich?

Zé Roberto:

Eigentlich sollte jeder Profi motiviert genug sein. Aber natürlich kann man eine andere Mannschaft zusätzlich motivieren. Der HSV könnte sich beispielsweise etwas für die Schalker einfallen lassen, damit sie besonders motiviert gegen Nürnberg sind. Wenn ich mich recht erinnere, haben das damals auch die Bayern gemacht, als wir am letzten Spieltag mit Leverkusen gegen Unterhaching gespielt haben. Ich weiß nicht mehr, was genau die Unterhachinger bekamen, aber leider hat es geholfen.

Lässt man als Spieler den Gedanken daran zu, was passieren könnte, wenn man das entscheidende Spiel verliert?

Zé Roberto:

Natürlich hat man diese Gedanken. Aber man muss versuchen, sie ganz schnell wieder zu vergessen. Es ist wichtig, dass man ein positives Ziel vor Augen hat. Negative Gedanken wirken sich zwangsläufig auch negativ auf das eigene Spiel aus. Auch beim HSV sollten die Spieler bloß nicht anfangen darüber nachzudenken, dass ganze Existenzen auf dem Spiel stehen.

Wie konnte es aus Ihrer Sicht beim HSV überhaupt so weit kommen?

Zé Roberto:

Was in Hamburg passiert ist, ist wirklich eine Schande. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie wir 2010 sogar um den Einzug ins Finale der Europa League gespielt haben. Aber schon damals brodelte es hinter den Kulissen. Beim HSV war immer alles sehr politisch. Die eine Fraktion hat gegen die andere gekämpft, Aufsichtsrat und Vorstand waren sich nicht einig. In so einem Ambiente kann man nur schwer professionelle Rahmenbedingungen schaffen. Dazu kamen dann noch die zahlreichen Wechsel der Trainer und Sportchefs, da war eine negative Entwicklung programmiert.

Als Sie beim HSV waren, stand der Club unter den Top 20 Europas.

Zé Roberto:

Als Bernd Hoffmann noch Präsident des HSV war, kämpfte der HSV jedes Jahr um die europäischen Plätze. Dies änderte sich, als er 2011 abgelöst wurde. Der neue Vorstand hat sich wohl auch aus finanziellen Gründen dafür ausgesprochen, sofort einen radikalen Schnitt zu machen und auf erfahrene Spieler wie Frank Rost, Piotr Trochowski, Joris Mathijsen, Ruud van Nistelrooy oder auch mich zu verzichten. Die Idee mag nachvollziehbar gewesen sein, aber man kann all diese Spieler nicht mit einigen Talenten ersetzen, die nicht mal die Bundesliga so richtig kennen. Das war ein Fehler.

Der HSV wollte Sie für ein Jahr halten, Sie wollten einen Zweijahresvertrag. Haben Sie später mal gedacht, dass Sie großes Glück hatten, nicht bei diesem HSV geblieben zu sein?

Zé Roberto:

So habe ich nie gedacht. Mir ging es damals nur darum, dass meine Familie und ich etwas länger planen konnten. Ich konnte mir damals aber beim besten Willen nicht vorstellen, dass die Entwicklung des HSV so rasant nach unten gehen würde.

Als Sie schon längst weg waren, sind Sie noch mal wiedergekommen und haben Ihre deutsche Staatsbürgerschaft erhalten. Planen Sie also doch eine Zukunft in Deutschland?

Zé Roberto:

Meine Familie und ich sind uns im Prinzip einig, dass wir eines Tages nach Deutschland zurückkehren werden. Was ich genau machen werde, weiß ich noch nicht. Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, eine Fußballschule zu gründen und einen Austausch mit Bundesligaclubs anzustreben. Vielleicht arbeite ich auch für einen meiner ehemaligen Clubs, um bei der Verpflichtung von Brasilianern und bei deren Eingewöhnung zu helfen. Bayer Leverkusen hat ja gerade erst meinen Grêmio-Kollegen Wendell verpflichtet, vorher hatte ich mit Rudi Völler und Michael Reschke darüber gesprochen, was ich von ihm halte und ob er sich wohl gut in Deutschland einleben wird.

Offenbar haben Sie nur Gutes berichtet.

Zé Roberto:

Ja, mit Wendell übe ich beim Training von Grêmio schon immer auf Deutsch. (Zé spricht jetzt wieder Deutsch:) Danke. Bitte. Rechts. Links. Hinten. Vorne. Abseits. Man muss bereit sein, sich zu adaptieren. Kein Verein in der Bundesliga hat das besser verstanden als Leverkusen.

Der HSV hatte mit Alex Silva und Thiago Neves weniger gute Erfahrungen.

Zé Roberto:

Das stimmt. Die beiden haben sich in Hamburg schwergetan. Aber es gehören immer zwei zu einer erfolgreichen Liaison. In Leverkusen investiert man beispielsweise sehr viel, damit es den Brasilianern gut geht. Und überwiegend hat man mit diesem Weg ja auch sehr positive Erfahrungen gemacht. Fast alle Brasilianer, die nach Leverkusen gewechselt sind, haben sich gut eingelebt, haben gut gespielt und wurden dann später für gutes Geld weiterverkauft. Nirgendwo sonst hat dieses Geschäftsmodell so gut funktioniert – auch nicht bei den Bayern.

Ein etwa 45 Jahre alter Mann fragt aufgeregt, ob er kurz stören dürfe. Er sei großer Grêmio-Fan, würde gerne ein gemeinsames Handyfoto machen. Zé Roberto kennt das Prozedere. Daumen hoch, Arm über die Schulter, Zähne (und Zahnspange) zeigen. Beleza, sagt der Mann, Wunderbar.

Ihre Bayern haben eine Saison der Rekorde gespielt, aber nach der Niederlage im Champions-League-Halbfinale gegen Real Madrid wurde alles infrage gestellt. Ist das noch normal?

Zé Roberto:

Die Erwartungen an diese Super-Bayern waren ganz einfach enorm. Nach dem Triple wurde Pep Guardiola verpflichtet, dann eilten die Bayern von Sieg zu Sieg und schließlich glaubte jeder, dass man wieder das Triple holen würde. Aber ganz so einfach ist das eben nicht. Und man kann ja auch gegen Real Madrid in einem Halbfinale ausscheiden, nur die Art und Weise war schon sehr enttäuschend.

Sie werden in diesem Sommer 40 Jahre alt, laufen aber immer noch in kurzen Hosen dem Ball hinterher mit Mitspielern, die nicht mal halb so alt sind wie Sie. Was ist Ihr Antrieb?

Zé Roberto:

Der Fußball an sich. Als kleiner Junge wollte ich immer nur Fußballprofi werden, nichts anderes. Das habe ich dann geschafft. Ich wollte nach Europa wechseln, das habe ich geschafft. Mein großer Traum war es, mal für die Nationalmannschaft zu spielen – und auch dieser Traum ging in Erfüllung. Alles, was ich als Fußballer erreichen wollte, habe ich erreicht. Jetzt geht es nicht mehr darum, mir noch irgendeinen Traum zu erfüllen. Ich liebe es, Fußball zu spielen. Und solange ich diese Liebe noch verspüre, werde ich weitermachen. Mein Vertrag mit Grêmio läuft im Dezember aus – und wenn ich mich dann noch gut fühle, dann hänge ich noch ein Jahr dran. Wenn ich aber das Gefühl habe, dass es reicht, dann höre ich auf.

Zé Roberto fragt, ob man seine Wohnung anschauen wolle. Sie sei aber nichts Besonderes, versichert er. Und tatsächlich: Zé Robertos Einzimmerapartment im 18. Stock ist die perfekte Junggesellenbude. Ein weißes Minisofa, ein großes Bett mit einem noch größeren Fernseher, dazu eine kleine Küchenzeile mit zwei Barhockern. Maximal 25 Quadratmeter ist das Loft groß. „Mehr brauche ich nicht“, sagt Zé Roberto, der an freien Tagen mit dem Flieger in einer Stunde und 20 Minuten zur Familie nach São Paulo jettet.

In Hamburg kann man als Fußballer normalerweise ein entspanntes Leben führen. Wie ist das hier in Brasilien?

Zé Roberto:

Es ist anders. Die Fußballanhänger sind sehr viel fanatischer. Man kann nur schwer ein bisschen shoppen gehen, weil man eigentlich immer angesprochen wird. Aber ich bin ja selbst Brasilianer, wusste also, worauf ich mich hier in Porto Alegre einlasse.

Ihre Familie wohnt in São Paulo in einem streng bewachten Wohnkomplex, wo auch viele andere ehemalige Fußballer wie Cafú oder Rivaldo leben. Haben Sie Angst vor der Welt da draußen?

Zé Roberto:

Die Sicherheitslage ist tatsächlich eines unser größten Probleme. Leider hat unsere Regierung weder die Sicherheit der Menschen gewährleisten können, noch hat sie die zahlreichen infrastrukturellen Probleme in den Griff bekommen. All das trägt zu einer Instabilität im Land bei, die leider zwangsläufig dazu führt, dass ein Familienvater von drei Kindern sich oft nicht anders zu helfen weiß, als andere Leute zu überfallen. Es gibt keine Arbeit und kein Geld, aber die Familie zu Hause hat Hunger. So ist das leider in Brasilien – und das macht mich traurig.

Wird Brasilien also auch bei der WM ein Sicherheitsproblem haben?

Zé Roberto:

Ich fürchte das. Das Problem ist so offensichtlich, aber die Regierung kümmert sich leider um viele andere Dinge, nur darum nicht.

Nehmen Sie und Ihre Familie Reißaus?

Zé Roberto:

Das haben wir vor. Kurioserweise wollen wir in Deutschland Urlaub machen, während alle Deutschen wahrscheinlich am liebsten hierherfliegen würden. Aber mir ist der Trubel während einer WM hier einfach zu groß. Ich will versuchen, Freunde in Hamburg, München und Leverkusen zu besuchen – und die WM werde ich dann vor dem Fernseher verfolgen.

Und die wichtigste Frage: Gegen wen wird Brasilien im Endspiel antreten?

Zé Roberto:

Na ja, wahrscheinlich ist es keine große Überraschung, dass mein Traumgegner für Brasilien Deutschland heißt. Ansonsten könnte ich auch mit Spanien oder Argentinien als Finalgegner gut leben. Nur meine Freunde in Deutschland werden das aber sicherlich ein wenig anders sehen.