Helmut Schulte wird Rapid am Jahresende verlassen. Mit großer Wehmut

Wien. Der Oberkellner im Café Schwarzenberg wiegt nachdenklich sein Haupt, bis er dann doch seinen Gast hereinwinkt. „Eigentlich haben Sie hier ja Hausverbot“, sagt er und geleitet den Besucher zu einem besonders schönen Tisch am Fenster. Zwei Minuten später serviert er den Sekt und fragt, ob es für den „Herr Direktor“ wie immer der Kaiserschmarrn sein darf.

„Das ist eben der Wiener Schmäh“, sagt Helmut Schulte. Ein richtig großer Rapid-Fan sei der Oberkellner – und nun entsprechend enttäuscht, dass sein Stammgast nach nur einem Jahr der Hauptstadt Österreichs wieder den Rücken kehren wird. So ganz, sagt Helmut Schulte, könne er sich auch nicht daran gewöhnen, dass in ein paar Tagen die Möbelpacker kommen werden, um die 120 Quadratmeter große Altbauwohnung in der Nähe des Schlosses Belvedere auszuräumen: „Wien, das ist die liebenswerteste Stadt Europas.“

Nun neigt ein echter Sauerländer – Helmut Schulte wurde 1957 in Kirchveischede geboren – weder zu Pathos noch zu sonderlichen Gefühlsausbrüchen. Anders hätte er es auch kaum so lange beim FC St. Pauli, einem der emotionalsten deutschen Clubs, aushalten können. Doch wenn er daran denkt, dass am Mittwoch mit dem Auswärtsspiel in Graz seine letzte Dienstreise für Rapid ansteht, wird der knorrige Westfale wehmütig: „Ich werde die Stadt, die Menschen, den Verein sehr vermissen.“ Wirkliche Vorfreude auf den neuen Job, den Managerposten bei Fortuna Düsseldorf, werde sich wohl erst an den Weihnachtstagen einstellen.

Wer Helmut Schulte noch einen Abschiedsbesuch abstatten will, braucht einen kundigen Führer – oder viel Geduld. Sein Büro duckt sich in die weitläufigen Katakomben im weiten Rund des Ernst-Happel-Stadions. Es gibt kein Vorzimmer, keine Sekretärin, nur einen schmucklosen Raum mit der Aufschrift „Helmut Schulte – Sportdirektor“ an der Tür. Der Blick ins Stadion wird versperrt durch das Stahlrohrpodest für Rollstuhlfahrer. Schulte macht das nichts aus: „Die müssen ja auch das Spiel vernünftig sehen können.“ An der Wand tickt eine Uhr mit dem Rapid-Logo, am Schreibtisch wühlt sich Schulte gerade durch eine Powerpoint-Präsentation über die Nachwuchsarbeit von Rapid, die er abends bei der Jahreshauptversammlung vorstellen wird.

Irgendwas schleifen lassen an den letzten Tagen, das kommt nicht infrage, da denkt der Sauerländer viel zu preußisch. Der Präsident hat ihn bekniet weiterzumachen, das Angebot aus Düsseldorf auszuschlagen. Ein paar Tage hat Schulte überlegt: „Wenn es nach meiner Frau gegangen wäre, wären wir hier geblieben. Diese Stadt mit ihren Theatern, Museen, Kaffeehäusern und Restaurants hat einfach eine unglaubliche Lebensqualität.“ Am Ende aber gab die berufliche Perspektive den Ausschlag. Die Düsseldorfer Fortuna ist trotz des Abstiegs einer der Renommierclubs in Deutschland, mit einer Arena für 55.000 Zuschauer, die zu den schönsten deutschen Stadien zählt.

Rapid atmet auch Tradition, 32 Meistertitel, 14 Pokaltriumphe, zwei Europacupfinal-Teilnahmen. Das Hanapi Stadion im Wiener Arbeiterviertel Hütteldorf erinnert indes eher an das alte baufällige Millerntor. Stromkabel liegen auf porösen Betonstufen, die verrosteten Klappsitze gleichen maroden Gartenstühle, die Blechcontainer mit dem Schriftzug „VIP-Club“ haben mit deutschen Bundesliga-Logen so viel gemein wie das berühmte Figlmüller-Restaurant, Heimat des Wiener Schnitzels, mit einer Pommesbude. Ganze 17.500 Plätze fasst die Arena, nur zu internationalen Spielen zieht Rapid ins große Ernst-Happel-Stadion. Seit Jahren diskutiert man über einen Um- oder Neubau, angesichts klammer Kassen wäre das Projekt aber ein großes Wagnis. Der Etat von 20 Millionen Euro kann jedes Jahr nur gedeckt werden, wenn Rapid das internationale Geschäft erreicht.

Nein, das ganz große Rad konnte Helmut Schulte in Nachbarschaft des Praters nie drehen, der Konkurrent aus Salzburg ist auch in diesem Jahr dank der Millionen des Sponsors Red Bull längst enteilt. Und Tradition kann mitunter auf dem Weg nach oben durchaus stören. Club-Idole, allen voran der einstige Nationalstürmer Hans Krankl, mischen in Diskussionen um Taktik, Kohle und Personal gern an vorderster Front mit. Widerspruch ist riskant. Wie sehr der Torschütze beim historischen 3:2-Triumph Austrias bei der WM 1978 in Cordoba angebetet wird, zeigt das große Poster im Rapid-Museum. Krankls Konterfei über dem Schriftzug „Hanse unser“ ist dem Turiner Grabtuch nachempfunden – eine sehr spezielle Form des Wiener Geschmacks.

Wie explosiv dieses Gemisch aus Treue und Tradition werden kann, hat Schulte am eigenen Leib erfahren. Als Rapid im Frühjahr neunmal in Folge nicht gewann, entrollten 3000 Ultras bei einer Demo ein Transparent mit der Aufschrift: „Wir tragen Rapid im Herzen, das ist bekannt. Schulte zurück an die Waterkant.“ Ausgerechnet Helmut Schulte, Liebling der Fans auf St. Pauli, war ins Fadenkreuz geraten. Die Ultras hatten einen eigentlich harmlosen Appell Schultes („Die Fans, die Rapid im Herzen tragen, werden die Mannschaft auch im Stadion unterstützen.“) als Provokation empfunden. Dabei wollte er doch nur sagen, dass das Team jede Unterstützung braucht.

Die Wogen haben sich längst wieder geglättet, zumal sich die Beförderung des Amateurtrainers Zoran Barisic zum neuen Chefcoach als kluger Schachzug entpuppte. Der Vorstand hat Schulte sogar gebeten, einen Nachfolger für sich selbst zu suchen, was in der Branche mindestens so ungewöhnlich ist wie der sehr spezielle Wechsel zur Fortuna. Dort wurde sein Vorgänger Wolf Werner, mit 71 ältester Manager im deutschen Profifußball, nicht etwa geschasst. Nein, Werner bleibt zunächst, soll Schulte einarbeiten. „Ich kann von Wolfs Erfahrungsschatz nur profitieren“, sagt Schulte.

Ein Sauerländer im Rheinland, kann das eigentlich passen? Bei einem Club, wo der Grat zwischen Euphorie und Depression unglaublich schmal ist, wo die großen Triumphe wie die Meisterschaft 1933 und der DFB-Pokalsieg 1980 längst fingerdick Patina angesetzt haben und wo Trainer Mike Büskens nach nur vier Monaten wieder entlassen wurde? Womöglich passt das sogar sehr gut. Hier der nüchterne Westfale, dort die rheinischen Frohnaturen. Schulte wird sich genau wie an seinen früheren Stationen intensiv um Nachwuchs und Scouting kümmern. Aber natürlich weiß er, dass der Druck ungleich größer ist als am Millerntor, wo die Fans selbst nach Niederlagen die Spieler bejubeln. Düsseldorf giert nach der Rückkehr in die Bundesliga, daran wird Schulte letztlich gemessen – zumindest mittelfristig.

Doch zunächst steht am Mittwoch für ihn das letzte Spiel mit Rapid an. Es ist auch das Wiedersehen mit einem alten Bekannten, das Grazer Tor hütet der ehemalige St.-Pauli-Torwart Benedikt Pliquett. Schulte hat ihm den Einstieg erleichtert, indem er gezielt streute, dass Pliquett ein guter Typ sei, einer, der sich auch sozial engagiere. In Düsseldorf trifft Schulte seine alte Liebe St. Pauli am zweiten März-Wochenende wieder. Dann tritt Fortuna gegen den Kiezclub, jenem Verein, mit dem für Schulte 1984 im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme als Jugendtrainer alles begann. Die Umstände der Vertragsauflösung im Mai 2012 – eigentlich sollte Trainer André Schubert und nicht der Manager gehen – kann Schulte noch immer nicht nachvollziehen: „Diese Trennung war überflüssig, wir waren auf einen guten Weg.“ Sei’s drum, ein Sauerländer neigt nicht zu großen Rachegefühlen.

Viel lieber genießt Schulte den köstlichen Kaiserschmarrn im Café Schwarzenberg. Bis auf den letzten Krümel hat er die Kalorienbombe verspeist. „Sie kommen doch wieder?“, fragt der Oberkellner beim Abschied. Natürlich wird Schulte zurückkommen. Wenn auch als Tourist.

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