Ein Kommentar von Giuseppe di Grazia

Brasilien gilt als das Land des schönen Spiels. Aber schon seit einigen Jahren wird der Gastgeber der kommenden Fußball-WM diesem Anspruch nicht mehr gerecht. Wenn es derzeit eine Nationalmannschaft gibt, die höchsten Unterhaltungswert bietet und sehenswerten Kombinationsfußball pflegt, dann ist es die deutsche. Kein anderes Spitzenteam schießt so viele Tore, keines spielt sie so spektakulär heraus, keines hat so viele weiße Brasilianer in seinen Reihen. Gerade hat sich Deutschland wieder mal beeindruckend für die WM qualifiziert. Keine Frage: Deutschland hat eine Mannschaft, die titelfähig ist. Das ist zu großen Teilen das Verdienst von Joachim Löw. Nun aber erwarten viele, dass er endlich beweist, dass er selbst ein titelfähiger Trainer ist. Die WM 2014 wird darüber entscheiden, ob Löw nur ein guter Fußballlehrer ist oder auch ein großer Sieger.

Das Maß aller Dinge sind für Löw schon lange die Spanier, die innerhalb von sechs Jahren drei Titel gewonnen haben. Löw hat die Spielweise der deutschen Mannschaft sehr stark an der des Europa- und Weltmeisters orientiert. Der Bundestrainer glaubt sogar, dass sein Team spielerisch noch dominanter werden muss als die Spanier, um diese endlich mal zu schlagen. Vielleicht liegt genau in dieser Sicht die größte Gefahr für Löw: statt einer noch stärkeren offensiven Ausrichtung sollte er auf eine engere Verzahnung von Viererkette und defensivem Mittelfeld setzen. Denn was er nämlich seiner Mannschaft bisher nicht beigebracht hat, ist die Balance zwischen dem schönen Sieg und dem stabilen Spiel. Die Spanier ließen bei den drei Turnieren, die sie gewannen, im Schnitt 0,3 Treffer pro Partie zu. Deutschland muss dagegen so viele Gegentore wie keines der europäischen Spitzenteams hinnehmen. Es sei hier nur an das 4:4 gegen Schweden oder das 3:3 gegen Paraguay erinnert.

Löw gab sich bei diesem Problem lange störrisch, fast trotzig, so, als wollte er das gar nicht einsehen. Löw mag eben das Risiko. Risiko verspricht Spektakel. Und es ist schon eine Ironie, dass nun ausgerechnet deutsche Fans und Experten sich von Löw wünschen, dass er weniger auf Spaß setzen soll und stattdessen auf Sicherheit, nachdem man sich so viele lange Jahre in Deutschland nach genau diesem Spaßfußball sehnte. Löw hat auf die seit Monaten anhaltende Kritik auf seine Art reagiert: mit Verzögerung. Dreimal spielte die deutsche Nationalmannschaft zuletzt zu null – obwohl sie selbst gegen die harmlosen Iren zu viele Chancen zuließ. Auch wenn es Löw nicht liegt: Er sollte weiter defensiver denken. Um endlich als Turniertrainer akzeptiert zu sein. Um endlich als Titeltrainer dazustehen. Es wäre für den so in das schöne Spiel verliebten Trainer am Ende sein ganz persönlicher Triumph.

Giuseppe Di Grazia, 46, arbeitete von 1996 bis 2000 für das Hamburger Abendblatt und ist heute stellvertretender Chefredakteur beim „Stern“.