Deutschlands Fußball-Frauen im EM-Finale gegen Norwegen. Kritik an Bundestrainerin verstummt

Hamburg. Es sind die gewohnten Reflexe der Branche, und der Männerfußball hat sie längst nicht mehr exklusiv: Wer Erfolg hat, macht alles richtig. Und dort, wo er ausbleibt, müssen Köpfe rollen. Sofort, schnell, konsequent.

Insofern darf als ziemlich wahrscheinlich angenommen werden, dass sich Silvia Neid, immerhin seit 17 Jahren im Trainergeschäft, in den vergangenen Tagen ernsthaft Gedanken um ihre berufliche Zukunft gemacht hat. Die Bundestrainerin sah sich nach den dürftigen Ergebnissen der deutschen Frauennationalmannschaft mit nur einem Vorrundensieg über Island heftiger Kritik gegenüber. Ihre Mannschaft spielte schlecht, blieb beim 0:0 gegen die Niederlande gleich zum Auftakt hinter den Erwartungen zurück und kassierte mit dem 0:1 gegen Norwegen die erste Niederlage bei einer EM seit 1993. Ein historischer Tiefpunkt, der medial wahlweise als „Peinlichkeit“, „Blamage“ oder „Bankrotterklärung“ etikettiert wurde. Neids Ablösung schien nach der vor allem aus der Bundesliga immer lauter werdenden Kritik unmittelbar und unweigerlich bevorzustehen.

Nun, da die deutschen Damen nach zwei 1:0-Siegen gegen Italien und Schweden weiter zum sechsten Mal in Folge und zum achten Mal insgesamt das Finale einer EM-Endrunde gewinnen können, ist eine ganz neue Neid-Debatte entbrannt. Es geht allein noch um die Frage, wie das Werk der seit sieben Jahren tätigen Bundestrainerin gewürdigt werden kann. Ihre Kritiker sind mundtot, stattdessen wird nun nach einer vorzeitigen Verlängerung des ohnehin noch bis 2016 gültigen Arbeitspapiers gerufen. Neid, so überschlug sich ein Kommentator der Nachrichtenagentur SID in seiner Eloge, solle im Falle des Titelgewinns am Sonntag (16 Uhr/ARD und Eurosport) im Endspiel gegen die Norwegerinnen, die am Donnerstagabend im Halbfinale Dänemark mit 4:2 im Elfmeterschießen (1:1 nach 120 Minuten) bezwangen, bitte schön ein Denkmal vor der DFB-Verbandszentrale in Frankfurt erhalten.

Silvia Neid zwischen Rausschmiss und Seligsprechung. Und das binnen weniger Tage. Die Wahrheit liegt – einmal mehr – im Graubereich. Die erfolgsverwöhnten deutschen Frauen müssen bei dieser Endrunde mit Kim Kulig, Babett Peter, Verena Faißt, Viola Odebrecht, Alexandra Popp und Linda Bresonik auf nicht weniger als sechs Stammspielerinnen verzichten. Der Altersdurchschnitt ist mit 23,5 Jahren so jung wie nie. Insofern sind die Leistungsschwankungen zwischen dem äußerst schwachen Auftritt gegen Norwegen und dem Galaabend gegen die schwedischen Gastgeberinnen völlig normal, ja geradezu erwartbar gewesen.

Der Anteil der Bundestrainerin daran ist allerdings – im Positiven wie im Negativen – eher als gering einzuschätzen. Neid zehrt schlichtweg von dem Boom im Mädchenfußball der letzten Jahre. Wichtig war daher vor allem ihre Entscheidung, sich dieses Fundus auch zu bedienen und mit Spielerinnen wie Lena Lotzen, Sara Däbritz, Leonie Maier oder Luisa Wensing auf die Jugend zu setzen, statt bereits aussortierten Kräften zu einer Rückkehr zu verhelfen.

Als große Strategin wird die 49-Jährige nicht mehr in die Geschichte eingehen. Die Qualitäten dieser jungen, unerfahrenen aber mittlerweile auch unbekümmerten deutschen Elf liegen weniger in taktischen Winkelzügen ihrer Übungsleiterin als vielmehr in der Summe ihrer individuellen Fähigkeiten. Und so zählt auch die routinierte Torfrau Nadine Angerer eher allgemeingültige Zutaten als Erfolgsrezept für das Endspiel auf: „Leidenschaft, Mut und Spaß.“ Aha, so einfach kann das manchmal sein – wenn man denn über ausreichend Qualität im Kader verfügt. „Ich will nur, dass wir Vollgas geben. Es wird auch der Wille entscheiden“, sagt auch Dzsenifer Marozsan.