Der Kapitän kennt seinen Wert in der Nationalelf und nutzt die Gelegenheit, seine Position weiter zu stärken

Durban. Vorigen Sonnabend, kurz vor Schluss, hat Philipp Lahm den Ball erobert. Mit demselben am Fuß ist er aus dem Strafraum heraus zum Konter über rechts losgezogen, aber urplötzlich, in völliger Missachtung des hechelnden Argentiniers in seinem Nacken, drosselte Deutschlands Kapitän mitten im Lauf das Tempo, zupfte sich seine Spielführerbinde zurecht - und erst als die wieder fest und gründlich saß, hat Lahm den nächsten Pass gespielt. Da war klar: Der gibt diese Kapitänsbinde nie mehr her. Der Ballack, verkündet Lahm, kann so gesund zurückkehren, wie er will, der kriegt das gute Stück für kein Geld der Welt mehr - nur über meine Leiche.

Dieses Machtwort der offiziellen Interimslösung hat eingeschlagen wie eine Bombe, und DFB-Manager Oliver Bierhoff war gestern tapfer bemüht, aus dem lahmschen Vorstoß den einzigen harmonischen Zungenschlag herauszukitzeln: "Er sagt ja selbst: Die endgültige Entscheidung wird der Trainer treffen."

Wirklich? Wird Joachim Löw das? Oder hat Lahm, als sein verlängerter Übergangsarm, dem Bundestrainer die Qual der Wahl bereits abgenommen? Nach dem Verlauf dieser WM geht ohne Lahm nichts mehr, und in diesem sicheren Gefühl hat er den perfekten Moment zur Machtergreifung wahrgenommen. Insider argwöhnen, dass Lahms Putsch mannschaftsintern abgesegnet war - aber auch für einen Alleingang gilt der Vorwärtsdribbler inzwischen als mächtig genug.

Der kleine Lahm wird immer größer. Er wächst sich bei dieser WM selbst über den Kopf, und in aller Stille und Klammheimlichkeit ist er mittlerweile sogar auf dem besten Weg, am Ende den Goldenen Ball in den afrikanischen Himmel zu stemmen - als bester Spieler der Weltmeisterschaft.

Lahm führt. Im Zwischenbericht der Expertenkommission steht sein Name ganz oben auf der Liste, vor dem des Spaniers Sergio Ramos. Beide sind nur Verteidiger, aber eben mehr als Verteidiger. 347 Pässe hat Lahm in den fünf Spielen bisher geschlagen, rekordreife 278 sind angekommen, und ein südafrikanisches Blatt hat ihn soeben beschrieben als "phänomenal an jedem Ende des Platzes". Einsame Klasse also. So sieht es auch Luis Cesar Menotti. Argentiniens Trainerguru und WM-Magier von 1978 schrieb dieser Tage, dass vor lauter Stürmern die wahren Lichtgestalten gern übersehen werden: Der Spanier Gerard Pique ist für ihn "der beste Abwehrstratege seit Franz Beckenbauer" - aber zuallererst erwähnt Menotti einen anderen: Philipp Lahm.

Der ist Kapitän, Triebfeder und überhaupt voller Tatendrang, rund um die Uhr steht er unter Strom - wenn er nicht gerade über den rechten Flügel dribbelt, wirbt er für die Aids-Hilfe oder die "Bild", und in der hat er, mittels Doppelpass, nun auch seine Ansprüche auf die Binde angemeldet. Das Amt, sagt er, macht ihm Spaß - aber auch die Macht macht ihm Spaß. Denn schon beim FC Bayern hatte er sich, ehe Mark van Bommel das Rennen machte, laut und öffentlich in die Lostrommel gestürzt. So nett und zum Knuddeln dieser sympathische Philipp ist - vor allem weiß er, was er will.

Dieses Beißen und Durchbeißen, das ist die Schule von Hermann Gerland. Der hat unter dem Kampfnamen "Der Eiserne" den Torjägern jahrzehntelang die Knochen poliert und später als Trainer seinen Bayern-Amateuren erzählt: "Ich hatte noch keinen Föhn, mit nassen Haaren bin ich vom Training jeden Tag heimgeradelt, und als ich ankam, war meine Birne gefroren."

Er hat auch den jungen Lahm geprägt. Der sieht zwar aus, als ob er keine Fliege an die Wand schlagen kann, aber mit Ballack hat er das locker getan - und auch Uli Hoeneß steigt jetzt noch die Hitze ins Gesicht, wenn er an Lahms Attacke vom vorigen Herbst denkt. Der hatte damals den Reifeprozess, in dem sich die Visionen von Louis van Gaal noch befanden, kurz mal genutzt, um den Bayern mit dem Holzhammer beizubringen, dass sie endlich eine Philosophie entwickeln und die dazu passenden Spieler holen sollten, statt konzeptlos große Namen zu kaufen. Wutschreie des Entsetzens und der Empörung hat Lahm geerntet, und Hoeneß drohte: "Das wird er bedauern."

Stattdessen hat er es tapfer überlebt, der Lahm, und weiter geht er seinen Weg, zielbewusst, unerschrocken und furchtlos. So kämpft er nun um seine Position - und gegen Ballack.

Die Kleinen, heißt es schon lange, sind giftig und ehrgeizig. Sie haben so dicht über der Grasnarbe kein leichtes Leben, als laufende Meter werden sie dauernd belächelt, und jedes Zimmer müssen sie zweimal betreten, bevor einer sie erkennt. Da steckt in der Kürze dann schnell mal die Würze.

Michael Ballack wird jetzt nicken. Er war der große "Capitano", aber nun tanzt ihm der kleine Lahm auf der Nase herum. In Südafrika trägt er schon die Binde, und das wird auch so bleiben, denn er ist der Riese dieser WM - schmächtig, aber mächtig.