Xabi Alonso steht mit seinen Toren zum 2:0-Sieg im Viertelfinale gegen Frankreich für den neuen Pragmatismus des Welt- und Europameisters Spanien

Gniewino. So sieht ein Jubiläum aus. In seinem 100. Länderspiel erzielte Xabi Alonso beide Treffer zum Halbfinaleinzug der Spanier bei der EM. Er - der defensive Mittelfeldspieler.

Nur, dass die Geschichte auch ein bisschen anders betrachtet werden kann. Der 30-Jährige ist nämlich vor allem für jene ein unwahrscheinlicher Torschütze, die Nationaltrainer Vicente del Bosque seit Jahr und Tag für seine defensive Doppelsechs mit ihm und Sergio Busquets kritisieren. Für del Bosque selbst ist Alonso "eine unserer Angriffsoptionen". Die Statistik hat er damit auf der Seite. In seiner Amtszeit ist Alonso mit 14 Toren nach David Villa der erfolgreichste Goalgetter.

Der Nationaltrainer hätte also einigen Anlass zu Triumphalismus gehabt, am Sonnabendabend nach dem souveränen, wenn auch nicht brillanten 2:0 über Frankreich in Donezk. Aber auf Rechthaberei wird man bei diesem so natürlichen wie tiefenentspannten Mann noch Tausende Länderspiele warten können. Auch wenn sein anderer Fetisch, die "falsche Neun" mit Cesc Fàbregas statt einem gelernten Mittelstürmer, ebenso funktionierte. Und er mit den ersten EM-Spielminuten für den entfesselt aufspielenden Pedro wieder mit einer Einwechslung richtig lag.

Kaum ein Wort darüber, dafür ein Lob ans Kollektiv und die Feststellung, dass "der Gegner eigentlich keine richtige Chance hatte". Unaufgeregter als del Bosque ist tatsächlich nur noch die gelassene Selbstverständlichkeit, mit der Spanien inzwischen seine Siege einfährt. Sie widerlegt alle Klischees der Vergangenheit: Aus talentierten Schönspielern sind begnadete Wettkämpfer geworden, die ihre Sicherheit auf einer quasi unfehlbaren Verteidigung aufbauen. Der erste Sieg in einem Pflichtspiel gegen Frankreich überhaupt war gleichzeitig Spaniens achte K.-o.-Rundenpartie nacheinander ohne Gegentor.

Defensivstatistiken freilich beeindrucken gerade in Spanien nicht jedermann, daher auch die Debatte um das Duo Busquets/Alonso, die schon die WM 2010 prägte. Sie rührt so viele Emotionen auf, weil sie das Herzstück des spanischen Stils betrifft, das Mittelfeld. Vorgänger Luis Aragonés gewann die EM 2008 mit nur einem defensiven Sechser, Marcos Senna, und weil Spanien damals spektakulärer spielte, wurde zwei Jahre später die ästhetische Enttäuschung an Alonso und dem damaligen Novizen Busquets festgemacht. Im polnischen Gniewino sah sich del Bosque dieser Tage bereits gezwungen, die Qualitäten des ungeliebten Duos ins rechte Licht zu rücken: "Sie sind keine Steinmetze." Soll heißen: Die beiden verteidigen nicht nur, sie können schon auch ganz gepflegt kicken.

Alonso belegte dieses Urteil gegen Frankreich weniger durch seine Tore - einen schönen Kopfball und einen Elfmeter - als durch 109 Pässe, von denen 98 ankamen: Höchstwert auf dem Platz noch vor Spielmacher Xavi. Durch sein Gespür für die Anforderungen bestimmter Partien und bestimmter Spielphasen kann del Bosque bislang auch die Müdigkeit einiger Spieler wie zuvorderst Xavi kompensieren. Gegen Frankreich operierte er dabei wieder mit einer seiner Lieblingsstrategien. Wenn im letzten Spieldrittel die Kräfte des Rivalen nachlassen und die Räume größer werden, wechselt er schnelle Stürmer ein. Wo Jesús Navas gegen Kroatien sogleich den Siegtreffer erzielte, wirbelte diesmal Pedro. Er holte auch den Elfmeter zum 2:0 heraus.

Der spanische Gegner weiß gegen Spielende nie, was ihn erwartet. Kommen Flügelstürmer wie Navas oder Pedro? Kommt Fernando Torres? Wechselt Spanien, so dieser von Beginn an aufläuft, mitten im Spiel auf ein System ohne echte Spitze? Trotz der kleinen Statur vieler Spieler ist es nicht einmal auszuschließen, dass plötzlich hohe Bälle in den Strafraum fliegen. Diese Option, verbunden mit Sturmtank Fernando Llorente, hat del Bosque bei dieser EM noch in der Hinterhand; er nutzt sie vor allem, wenn sein Team unbedingt ein Tor braucht, und das war hier noch nicht der Fall.

Am Mittwoch geht es im Halbfinale gegen Portugal, aber die Spanier bringt nicht einmal die Galaform von Cristiano Ronaldo aus ihrer Bierruhe. Del Bosque sorgt sich allerdings etwas um die Physis, Spanien hat zwei Tage weniger zur Erholung. Umso mehr ist damit zu rechnen, dass er sich für seine Einwechslungen wieder etwas Besonderes einfallen lässt.

Spanien: Casillas - Arbeloa, Piqué, Ramos, Alba - Busquets - Xavi, Xabi Alonso - Silva (65. Pedro), Fàbregas (67. Torres), Iniesta (84. Cazorla). Frankreich: Lloris - Réveillère, Rami, Koscielny, Clichy - M'Vila (79. Giroud) - Cabaye, Malouda (65. Nasri) - Debuchy (64. Ménez), Ribéry - Benzema. Tore: 1:0 Xabi Alonso (19.) 2:0 Xabi Alonso (90.+1, Foulelfmeter). Schiedsrichter: Rizzoli (Italien). Zuschauer: 47 000. Gelbe Karten: Ramos - Cabaye, Ménez.