Die Engländer betrachteten ihren Trainer Hodgson mit Skepsis - nun vertrauen sie ihm

Krakau. Den Franzosen hatte Roy Hodgson schon die EM vermiest, da war die Vorrunde noch gar nicht beendet. Weniger mit dem 1:1, das seine englische Nationalmannschaft dem vermeintlichen Geheimfavoriten im Auftaktspiel der Gruppe D abtrotzte, sondern mit einer geradezu christlichen Geste verärgerte der 64-Jährige die "Grande Nation". Als 30 Meter hohe Holzstatue thront er predigend über Dover, die heimische Presse taufte den Holzkoloss "Roy der Erlöser". Es wirkt, als würde er der ganzen Insel von der Südspitze aus seinen Segen schicken. Die Franzosen, die die Nachbildung der Jesus-Statue von Rio de Janeiro über den Ärmelkanal hinweg sehen können, waren außer sich vor Wut. Ein Fußballtrainer als Gottheit? Eine Nation, die jahrelang von Raymond Domenech trainiert wurde, kann darüber wirklich nicht lachen.

In England hingegen werden von Tag zu Tag mehr Plakate mit der Aufschrift "In Roy we trust" abgesetzt. Das Vertrauen in den Trainer wächst mitjedem Spiel; spätestens seit dem Gruppensieg ist keine Rede mehr von seinen vergleichsweise provinziellen Stationen beim FC Fulham und bei West Bromwich Albion. Im Viertelfinale am Sonntag (20.45 Uhr/ARD) gegen Italien soll nun das glückliche Händchen des 64-jährigen Coachs den Weltmeister von 1966 ins Halbfinale tragen.

Dabei kann die Verpflichtung eines Trainers kaum von weniger Vertrauen begleitet werden als die Hodgsons. Als er am 30. April seine Zusage für die EM gab, lagen zweieinhalb zähe Monate voller Absagen hinter dem Verband FA. Der Rücktritt des Italieners Fabio Capello hatte eine hektische Nachfolgersuche ausgelöst. Spielerfavorit Harry Redknapp war vom FA-Vorstand nach einer Steueraffäre nicht zu vermitteln, José Mourinho und Guus Hiddink wollten nicht; in seiner Not sprach Verbandspräsident David Bernstein sogar schon mit U21-Trainer Stuart Pearce.

Als die Wahl dann auf Hodgson fiel, war nur dessen Zeitnot noch größer als die Skepsis, die ihm entgegenschlug. Gerade ein Monat blieb, das Team für die Dienstreise nach Osteuropa zu formen. "Ich glaube nicht, dass wir alsFavorit in das Turnier gehen", sagte Hodgson, und das war eine durchaus realistische Einschätzung.

Sechs Wochen später könnte seine Bilanz kaum besser sein: Vier Siege, ein Remis und dazu richtige Entscheidungen in Serie haben England zum Anwärter auf das Halbfinale gemacht. DieAusbootung des langjährigen Abwehrrecken Rio Ferdinand war ein großes Thema auf der Insel - bis dessen Ersatzmann Joleon Lescott auf ganzer Linie überzeugte. Gegen Schweden wechselte Hodgson beim Stand von 1:2 Theo Walcott ein. Drei Minuten später traf der Arsenal-Star zum 2:2. In der abschließenden Partie gegen die Ukraine war Superstar Wayne Rooney nach einer Sperre wieder einsatzberechtigt - noch so ein pikantes Thema. Hodgson ließ ihn spielen, Rooney bedankte sich mit dem 1:0-Siegtreffer. "Es ist gut, wieder einen Engländer als Trainer zu haben", sagte der Angreifer von Manchester United anschließend spitz in Richtung Capello: "Wir haben jetzt keinerleiVerständigungsprobleme mehr." Doch Hodgsons Erfolgsgeheimnis geht über seine bloße Nationalität hinaus.

Wie schon als Nationaltrainer der Schweiz, die er zur WM 1994 führte, versteht es der gebürtige Londoner noch immer, gute Stimmung im Team mit professioneller Anspannung zu harmonisieren. Nach der Rückkehr von den Partien werden im Hotel "Stary" die Snooker- und Kickertische aufgebaut. "Alles ist da. Der Betreuerstab hat in dieser Hinsicht wirklich tolle Arbeit geleistet", lobte Walcott die gelösteAtmosphäre. In der Spielvorbereitung führt Hodgson lange Einzelgespräche mit seinen Schützlingen. Das ist noch so ein Grund, warum er inzwischen "Anti-Capello" genannt wird. Es ist als Adelung gemeint.

Die Engländer wohnen in Krakau in einem ehemaligen Table-Dance-Lokal, die Altstadt ist ein Eldorado für Spieler mit Hang zu nächtlichen Eskapaden. Doch bisher produzierten die in dieser Hinsicht sonst so zuverlässigen "Three Lions" nicht eine einzige Skandalmeldung. Stattdessen gab es aus dem Abschlusstraining, das wegen eines Maulwurfs auf dem Rasen unterbrochen werden musste, folgende Neuigkeit: Roy Hodgson lässt seine Spieler vor dem Duell mit Italien Elfmeterschießen üben. Bei diesem Trainer wäre es keine Überraschung, wenn England selbst in dieser Disziplin plötzlich bestehen könnte.

England: 1 Hart - 2 Johnson, 6 Terry, 15 Lescott, 3 Cole - 4 Gerrard, 17 Parker - 16 Milner, 11 Young - 10 Rooney, 22 Welbeck. Italien: 1 Buffon - 7 Abate, 15 Barzagli, 19 Bonucci, 6 Balzaretti - 21 Pirlo - 8 Marchisio, 5 Motta, 16 De Rossi - 11 Balotelli, 10 Cassano. Schiedsrichter: Proenca (Portugal).