Nach Chiles 1:0-Sieg gegen die Schweiz stehen alle fünf Vertreter des Kontinents vor dem Erreichen des Achtelfinals

Hamburg. Als beim Duell zwischen der Schweiz und Chile gestern Nachmittag auch die letzte von drei Nachspielminuten abgelaufen war, gab es im chilenischen Block im Stadion von Port Elizabeth kein Halten mehr. Nach dem bis zur letzten Sekunde dramatischen 1:0-Sieg von "La Roja" über die Schweiz wedelten überall die rot-weiß-blauen Fähnchen und für einen kurzen Moment übertrafen die lautstarken Südamerikaner sogar das dumpfe Vuvuzela-Tröten. "Das ist fantastisch, was hier passiert ist. Was gibt es Schöneres, als zu gewinnen und das entscheidende Tor zu schießen", jubelte Chiles Siegschütze Mark Gonzalez, der sein Geld in Russland bei ZSKA Moskau verdient, nach seinem umstrittenen Treffer (Bericht Seite 24). "Jetzt können wir vom Achtelfinale träumen." Und tatsächlich haben die Chilenen mit zwei Siegen genauso wie Brasilien und Argentinien die Qualifikation für die erste K.o.-Runde bereits fast perfekt gemacht - anders als die beiden Großen aber erst zum zweiten Mal in den vergangenen 44 Jahren.

Die fünf Teams aus Südamerika haben bei dieser WM nicht einmal verloren

Grund zum Feiern gibt es in diesen Tagen allerdings nicht nur für die Fans aus Chile. Bei der Weltmeisterschaft in Südafrika scheint sogar ein ganzer Kontinent Kopf zu stehen - aber anders als es das Drehbuch der WM-Organisatoren vorgesehen hatte, heißt dieser Kontinent nicht Afrika, sondern Südamerika. Nach Chiles Sieg gegen die Schweiz haben die fünf Vertreter aus Südamerika bereits einen WM-Rekord mit zehn Spielen ohne Niederlage aufgestellt, erstmals seit 1990 könnten alle Südamerikaner das Achtelfinale erreichen. "Die Stärke des südamerikanischen Fußballs liegt in der technischen Qualität und der Kreativität" erklärt Carlos Alberto Parreira die plötzlichen Erfolge der Teams vom fußballverrückten Kontinent. Parreira muss es wissen: Mit Brasilien wurde der Fußballlehrer 1994 Weltmeister, mit Südafrika steht der Nationaltrainer genauso vor dem Vorrunden-Aus wie die anderen fünf Vertreter vom schwarzen Kontinent.

Dabei ist die Stärke der lateinamerikanischen Teams - auch Mexiko aus Mittelamerika steht vor dem Einzug ins Achtelfinale - für viele Experten keine große Überraschung. Längst gelten die in Europa so begehrten Fußballer jenseits des Atlantiks nicht mehr nur als technisch gut, sondern auch als taktisch und konditionell bestens ausgebildet. Anders als beispielsweise in Afrika gibt es zwischen Anden und Amazonas seit mehreren Jahrzehnten einen gewachsenen und professionell geführten Ligabetrieb, der sich durchaus mit den Ligen in Europa messen kann. So muss sich beispielsweise die Copa Liberadores, die Champions League Südamerikas, vor ihrem europäischen Pendant in keiner Weise verstecken. Seit 1960 wird der Klubwettbewerb in allen Ländern des südlichen Subkontinents ausgetragen und ebenso euphorisch von den Fans in den Stadien und den Zuschauern am TV verfolgt wie die europäische Königsklasse. "Die Erfolge bei dieser WM überraschen mich nicht", sagt deswegen auch Paraguays Nationaltrainer Gerardo Martino, "unsere fünf Teams haben hohe Erwartungen, aber auch große Perspektiven."

Meisterschaften in Südamerika haben einen hohen Stellenwert

Neben dem Klubwettbewerb haben auch die nationalen Meisterschaften in Südamerika einen viel höheren Stellenwert als die Ligen in den afrikanischen Ländern. Während afrikanische Talente häufig in Fußballschulen ausgebildet und direkt nach Europa "exportiert" werden, müssen sich südamerikanische Talente zunächst mal in den eigenen Ligen durchsetzen. Dabei können sich die zahlreichen Scouts aus Europa nicht nur in Brasilien und Argentinien auf den Tribünen der großen Klubs die Hände reichen, sonders sind auch oft gesehene Gäste in Chile, Kolumbien, Peru und Paraguay. Alleine in Uruguay, dem zweimaligen Weltmeister, gibt es mehr als 1100 organisierte Vereine, dazu eine erste und eine zweite Liga mit jeweils 16 Klubs. Trotzdem warnt Uruguays Nationaltrainer Oscar Tabarez davor, das gute Abschneiden der fünf Teams aus Südamerika überzubewerten: "Man sollte nicht voreilig den Schluss ziehen, dass dies eine Tendenz sei, schließlich handelt es sich erst um die erste Phase des WM-Turniers."

Und dennoch haben die Fans aus Chile, Uruguay und Paraguay allen Grund, stolz darauf zu sein, endlich die Phalanx der "os grandes dois" - der beiden Großen - durchbrochen zu haben. Denn anders als in den vergangenen Weltmeisterschaften sorgen eben nicht nur Brasilien und Argentinien für die bereits vor der WM erwarteten Erfolge. Dabei hat sich die höhere Leistungsdichte bereits in der Qualifikation für die WM in Südafrika angedeutet. So besiegte Chile Argentinien 1:0, Paraguay schlug sogar Brasilien (2:0) und Diego Maradonas Argentinien (1:0). Beide Teams landeten in der Abschlusstabelle nur einen Punkt hinter dem Rekordweltmeister, aber fünf Zähler vor Argentinien. "Wir haben in der Qualifikation zwei der besten Mannschaften der Welt geschlagen", sagt Paraguays Stürmer Roque Santa Cruz, "das zeigt, dass alles möglich ist." Und das gilt nicht nur für Paraguay und Chile, sondern bei dieser WM für alle Vertreter Südamerikas: Tudo é possível!

Chile: Bravo - Isla, Medel, Ponce, Jara - Carmona - Vidal (46. Gonzalez), Fernandez (65. Paredes) - Sanchez, Beausejour - Suazo (46. Valdivia).

Schweiz: Benaglio - Lichtsteiner, von Bergen, Grichting, Ziegler - Behrami, Inler, Huggel, Fernandes (77. Bunjaku) - Frei (42. Barnetta) - Nkufo (68. Derdiyok).

Tor: 1:0 Gonzalez (75.). Schiedsrichter: Al Ghamdi (Saudi-Arabien). Zuschauer: 34 873. Rot: Behrami nach einer Tätlichkeit (31.). Gelb: Suazo, Ponce, Carmona (2), Fernandez (2), Medel, Valdivia - Nkufo, Barnetta, Inler.