Ghanas Boateng ist abseits des Platzes zu oft orientierungslos

Sun City. Es gibt da diese Geschichte eines jungen Mannes, der von ganz unten kam und sich ganz nach oben schoss. In "Scarface", einem Filmklassiker von Regisseur Brian de Palma aus dem Jahr 1983, geht Tony Montana, verkörpert von Schauspieler Al Pacino, seinen Weg vom kubanischen Einwanderer zum Drogenkönig der USA. "The world is yours" ("Die Welt gehört dir") prangt auf einer Skulptur vor der Villa des Gangsters - es ist sein Lebensmotto. "The world is yours" steht auch auf dem Oberarm von Kevin-Prince Boateng.

Der 23-Jährige hat sich den Spruch tätowieren lassen, und niemand muss lange rätseln, warum. Montanas Lebenslauf ähnelt seinem eigenen, wenn auch in deutlich abgeschwächter Form. Drogen und Mord tauchen nicht in seiner Vita auf. Aber ansonsten sind die Parallelen offensichtlich. Boateng ist stolz darauf. Auch er kommt von ganz unten, ist im Berliner Problembezirk Wedding aufgewachsen und hat sich dort jene Härte angeeignet, die er ebenso gern zur Schau stellt wie protzigen Reichtum. Er hat seinen Weg gemacht, weil auch seine Schüsse ihr Ziel fanden. Zum Glück nicht in Menschenkörper, sondern in Fußballtore.

Morgen spielt er für Ghana gegen Deutschland (20.30 Uhr/ARD). Es ist das entscheidende Gruppenspiel, für beide Mannschaften könnte es die letzte Partie der WM sein. Doch die Dramatik rund um Boateng geht weit über das sportliche Ereignis hinaus. Schließlich ist da Jerome Boateng, 21, der auf der anderen Seite spielt. Der Gute, der für Deutschland kämpft; das Land, das ihn, den bösen Boateng, verstoßen hat - so sieht es jedenfalls Kevin. Und da ist dessen Foul, mit dem er kurz vor der WM Michael Ballack so schwer verletzte, dass Deutschland aufschrie und seither den Ausfall des Kapitäns betrauert.

Boatengs großes fußballerisches Potenzial wird nur von einem Talent übertroffen - dem, sich unbeliebt zu machen. Dabei galt er einst als aufgehender Stern des deutschen Fußballs. Der Großneffe von 54er-Weltmeister Helmut Rahn wurde auf einem Berliner Bolzplatz entdeckt. In den Jugendmannschaften von Hertha BSC war er der Anführer, in der B-Jugend wurde er 2003 deutscher Meister. 41-mal spielte er für Nachwuchsmannschaften des Deutschen Fußball-Bundes. Er war auf dem Sprung nach ganz oben - und stellte sich selbst ein Bein.

Kaum war er in Herthas Profimannschaft gewechselt und damit ins Rampenlicht der Öffentlichkeit gerückt, offenbarten sich seine Schwächen. Es hagelte Rote Karten, weil er seine Gegenspieler rüde attackierte. Im Training legte er sich mit Mitspielern an. In der Kabine drohte er gar seinem Trainer Falko Götz mit Prügel, weil dieser in einem Interview behauptet hatte, Kevin hätte "viele Geschwister, alle von anderen Vätern". Das familiäre Bindeglied zwischen Kevin und Jerome ist der gemeinsame Vater.

Zur latenten Aggressivität kam ein pubertäres Macho-Gehabe. Fast im Wochentakt legte er sich neue Tattoos zu. Hertha-Manager Dieter Hoeneß verkaufte Boateng nach zwei Jahren zu Tottenham Hotspur nach England. Er fürchtete, dass er andere junge Spieler vom rechten Weg abbringen würde. In England gab sich Boateng nicht anders als in Berlin: sportlich begabt, abseits des Platzes orientierungslos. Er wechselte den Berater, brach den Kontakt zu seinem Vater ab und trennte sich von seiner hochschwangeren Frau, um sich wenig später wieder mit ihr zu versöhnen. Außerdem veranstaltete er Kauforgien gegen den Frust.

Vielleicht hätte er morgen mit Jerome zusammen für Deutschland spielen können, wenn er disziplinierter wäre. Weil er aber bei der deutschen U-21-Mannschaft Reha-Termine versäumte und zu spät zu Teamsitzungen erschien, beschloss der Mannschaftsrat vor der EM 2009, dass der letzte Streichkandidat Kevin Boateng heißen sollte. Deutschland wurde mit einem stark aufspielenden Jerome Boateng Europameister, Kevin schmollte und heuerte bei Ghana an. Er kann nicht anders, schließlich hält er es mit seinem Vorbild, Tony Montana. Der hat sich auch nichts gefallen lassen. Vielleicht sollte er aber auch bedenken, dass die Filmfigur am Ende stirbt - im Kugelhagel seiner Feinde.