Der Bremer Mesut Özil verleiht dem deutschen Spiel lange vermisste spielerische Klasse

Durban/Erasmia. Die Situation war wie geschaffen für einen Fußballfeintechniker wie ihn, der das Risiko und den Angriff liebt und auf engstem Raum mit einer geschickten Körperdrehung oder -täuschung alle narren kann. Alle warteten auf den genialen Einfall - doch dann wich er vorsichtig-zaudernd einen Schritt zurück, formulierte einfache Sätze, in denen er sich bei der Mannschaft und dem Trainerstab ausdrücklich für das Vertrauen bedankte. Das Geheimnis seines Spiels? "Die Mitspieler laufen in die Lücke, dann spiele ich einfach rein. Sie machen mir das Leben einfacher, weil sie sich gut bewegen. Wir haben das im Training mit vielen Passformen geübt."

Nein, Orte wie die Mixed-Zone eines Stadions, wo Mesut Özil nicht seine Füße sprechen lassen kann, würde der türkischstämmige 21-Jährige am liebsten gekonnt umdribbeln. Dabei ist besonders sein Name in der Fußballwelt in den Fokus gerückt, weil er wie ein Nachkomme von Goethes Zauberlehrling das einst häufig so unansehnliche, aber dennoch erfolgreiche Gekicke der DFB-Auswahl mit einer bisher unbekannten deutschen Fußballformel in ästhetischen Sport verwandelte.

Bei der beliebten Jagd während einer WM nach neuen, unverbrauchten Stars waren die internationalen Lobeshymnen und der Hype um Özil zwangsläufig. "Die Deutschen überrollen alle, mit Özil als Drehscheibe, der nach allen Seiten Raketen abschießt", schrieb die französische Zeitung "Libération" nach seinem glanzvollen Auftritt gegen Australien, während das spanische Sportblatt "Marca" feststellte, dass "die Deutschen mit Özil in schwindelerregender Geschwindigkeit fliegen".

Wie früher sein Vorbild Zinedine Zidane hat auch der Linksfuß die seltene Fähigkeit, mit seinem sensiblen Radarsystem sein Umfeld ständig unter Kontrolle zu haben und blitzschnell reagieren zu können. Wenn der Ball zu ihm gepasst wird, weiß der Kreativgeist schon meistens, wie er ihn verarbeiten will. Irgendwie passt es, dass seine Lieblingsfächer früher in der Schule Sport, Kunst und Mathematik waren, weil sein Fußball von einer kreativen Unberechenbarkeit gekennzeichnet ist. "Wie er die Rolle interpretiert, mit welcher Leichtigkeit er tödliche Pässe spielt, ist ganz hohes Niveau", schwelgte auch Joachim Löw. "Bei ihm stoppt unser Spiel nicht, er gibt ihm weiteren Fluss."

Während der Bremer Profi, der in Gelsenkirchen aufwuchs und bei Schalke zum Profi aufstieg, für Werder die Elf trägt, ist es im DFB-Trikot die Acht. Miroslav Klose hatte indes eine andere Zahl im Kopf, als er gestern auf seinen Partner in der Offensive angesprochen wurde: "Wir haben einen Zehner gebraucht und gesucht. Ich bin froh, dass er sich für Deutschland entschieden hat." Eine Anspielung darauf, dass auch die Türkei lange intensiv um die Künste Özils buhlte. Dabei passen schon gezogene Vergleiche zu Spielmachertypen wie Günter Netzer, Wolfgang Overath, Hans Müller oder Thomas Häßler nur bedingt. In Sachen Tempo, Dynamik und Zug zum Tor erinnert Özil eher an Andreas Möller. In Bremen wird er dagegen häufig "Messi" gerufen, nach dem argentinischen Topstar.

Auch wenn Özil noch weit davon entfernt ist, auf einer Stufe mit dem Barcelona-Profi stehen zu dürfen, so bescheinigte ihm Löw gestern, bereits auf Weltklasse-Niveau Spiele abgeliefert zu haben. Der nächste Schritt sei aber nun, das Niveau konstant zu halten und sogar zu steigern: "Das ist noch ein langer, steiniger Weg." Vor allem seine Abschlussschwäche vor dem Tor muss Özil, der mit Anna Maria Lagerblom, der Schwester von Popsängerin Sarah Connor liiert ist, noch beheben, will er zu den ganz Großen seiner Zunft gehören. Dennoch: Da eine WM auch immer eine (überteuerte) Spielerbörse ist, schossen gestern sofort Spekulationen um Özils Zukunft hoch, der zudem an der Weser nur noch bis Juni 2011 unter Vertrag steht. Manchester City, der FC Chelsea und auch Barcelona sollen sich in die lange Schlange der Interessenten eingereiht haben. Mit dem gestrigen Besuch seiner Bremer Spieler im Quartier bei Pretoria bewies Klaus Allofs deshalb ein gutes Gespür für den richtigen Moment seiner Anreise. Der Werder-Manager will versuchen, den Vertrag noch einmal zu verlängern, um notfalls in einem Jahr noch Ablöse erzielen zu können. Özil selbst blockte Nachfragen zu seiner Zukunft kategorisch ab: "Ich konzentriere mich derzeit nur auf die WM." Die Gespräche sollen nach Turnierende wieder aufgenommen werden.

Fest steht jedoch: Sollte Özil solche Auftritte wie vom Sonntag auch gegen Topteams wiederholen können, dürfte er kaum zu halten sein. Sollte. Denn dass ein junger Spieler wie er Formschwankungen unterliegt, zeigte sich in der abgelaufenen Saison, als der Zauberlehrling nach seinem Debüt in der DFB-Auswahl (5. September gegen Südafrika) lange nicht die Geister der übermäßigen Erwartungen vertreiben konnte, die er hervorgerufen hatte. Doch mit der Hilfe von Lehrmeister Thomas Schaaf fand Özil den Weg zurück in die Erfolgsspur - und jetzt scheint er bei Löw in besten Händen zu sein. Und als Glücksbringer trägt er einen Computerchip mit den gesammelten Wünschen seiner Fans für die WM in Südafrika im Schuh, den ihm sein Sponsor Nike anbringen ließ. Was wundert es da, dass es mit den Füßen viel besser klappt als mit dem Mund.