Jagdszenen wie in Berlin illustrieren die Eskalation der Gewalt im Fußball. Das Abendblatt startet dazu eine Serie. Warum schlagen Fans immer öfter zu?

Berlin. Die Gewalt entlud sich abrupt wie ein Vulkan, und niemand schien darauf vorbereitet. Kaum war am Sonnabend der Schlusspfiff im Berliner Olympiastadion verhallt und der Abstieg des Fußball-Erstligisten Hertha BSC (1:2 gegen den FC Nürnberg) so gut wie besiegelt, kletterten rund 100 Chaoten über den Stadiongraben, stürmten das Spielfeld und trieben mit Stangen bewaffnet die Sicherheitskräfte vor sich her. Spieler, Trainer und Betreuer flüchteten in die Katakomben. "Da nimmst du nur noch deine Beine in die Hand. Die hauen dir sonst die Birne ein", schimpfte Nürnbergs Abwehrspieler Andreas Wolf.

Die Chaoten zertrümmerten mit Fahnenstangen Werbetafeln und Trainerbänke. "Die Türen zu", schrie Nürnbergs Trainer Dieter Hecking, als die Randalierer Kurs auf den Kabinengang nahmen. Detonierende Feuerwerkskörper verstärkten die bedrohliche Kulisse. Minutenlang wüteten die Rowdys im Innenraum des Stadions, ehe eine Hundertschaft von Polizisten eingriff und die Krawallmacher zurück in den Block drängte. 30 Randalierer wurden festgenommen.

Da war sie wieder, die zügellose Gewalt sogenannter Fans, die sich ein ums andere Mal in deutschen Stadien und weit darüber hinaus Bahn bricht. Und sie richtet sich längst nicht mehr allein gegen die Fans des Gegners, sondern immer häufiger gegen den eigenen Verein. Rebellionen in den Anhängerschaften sind kein neues Phänomen, die drastischen Fälle der vergangenen Monate aber geben den Funktionären zu denken. Noch am Abend nach den Berliner Krawallen versprach Reinhard Rauball, Chef der Deutschen Fußball-Liga (DFL): "Der Ligavorstand wird sich auf seiner nächsten Sitzung mit dem Thema intensiv befassen, um eine ligaweite Strategie zu beraten."

In Stuttgart drohten Fans: Wenn ihr absteigt, schlagen wir euch alle tot!

Eines der dramatischsten Ereignisse dieser Art hatte sich im vergangenen Dezember in Stuttgart abgespielt. Fans des in der Bundesliga schwächelnden VfB probten schon vor dem Heimspiel gegen Bochum den Aufstand. Gegen Trainer, Spieler, Verein. 150 von ihnen blockierten den Mannschaftsbus, ihre Gesichter verbargen sie hinter schwarzen Masken und Kapuzen. Jugendliche randalierten, warfen Bierbecher, zogen Zeigefinger an ihren Kehlen entlang, verbunden mit der donnernden Drohung: "Wenn ihr absteigt, schlagen wir euch alle tot!" Auf dem Rasen wirkten die Spieler des VfB danach wie Schatten ihrer selbst, kraftlos, eingeschüchtert, hilflos. Sie wollten ihrem Trainer Markus Babbel den Arbeitsplatz erhalten. Vergeblich, es wurde nur ein Unentschieden. Das Volk hatte ohnehin längst gesprochen, mehr noch: Es hatte mitbestimmt.

Die Abschiedsrede, die Babbel dann nach seiner Entlassung hielt, wird diese Fußballsaison lange überdauern. "Diese Abneigung habe ich noch nicht erlebt", sagte Babbel. Sein Gesicht kreideblass, der Blick gefroren, die Stimme entschlossen wie selten. "Meine Spieler hatten Angst, sie haben sich nicht mehr sicher gefühlt." Babbel musste seinen Job, in dem er lange erfolgreich war, aufgeben. Er hatte das Siegen verlernt, so etwas passiert oft im Fußballgeschäft - doch dieses Mal war alles anders.

Im Blickpunkt der Funktionäre, die dem Phänomen zunehmender Randale eher rat- und hilflos begegnen, stehen vor allem die Ultras, die sich als Anwälte des traditionellen Spiels verstehen und gegen Kommerzialisierung eintreten. Eine Fan-Bewegung, die sich Anfang der 90er-Jahre aus Italien ausbreitete. Ultras wollen am Geschehen teilnehmen. Durch Gesänge, Choreografien, Applaus. Diese Nebenrolle scheint ihnen aber nicht immer zu genügen.

Auf einem Trainingsplatz in Dresden waren elf Gräber ausgehoben

Die Hinrunde wurde von Fan-Protesten geprägt wie keine zuvor: In Bochum verbrannten Fans Plakate mit den Gesichtern von Trainer und Manager. Unbekannte zerkratzten das Auto von Trainer Marcel Koller, lauerten ihm und seiner Frau auf, bald darauf wurde Koller freigestellt. In Nürnberg wurde Sportdirektor Martin Bader gebeten, nicht sein Haus zu verlassen, er hatte Morddrohungen erhalten, eine Streife fuhr auf und ab. In Rostock demonstrierten Ultras und verweigerten ihrem Team wochenlang die Unterstützung. Bis sie ihr Ziel erreicht hatten: den Rücktritt des Sicherheitschefs Jörg Hübner. In Dresden drohten Vermummte ihren Lieblingsspielern, frustrierte Fans hoben auf einem Trainingsplatz elf Gräber aus. Überall wurde der Zorn in unzähligen Internetforen kultiviert und angestachelt. Aus Kampfansagen in der Anonymität wurde öffentliche Angst.

Schmähungen sind Alltag geworden, oft haben sie personelle Konsequenzen. Für die Vereine, die dem Druck nicht standhalten wollen. "Der Fußball ist kein Spiegelbild der Gesellschaft, sondern ein Brennglas, das allgemeine Probleme verstärkt abbildet", sagt Gunter A. Pilz, Sportsoziologe der Universität Hannover. Die Zahl der Strafverfahren im Umfeld des Profifußballs bleibe seit Jahren gleich - sie bewegt sich bei viereinhalbtausend pro Saison-, doch die Brutalität wachse, ähnlich wie bei Demonstrationen von Autonomen. "Es entsteht ein regelrechter Gewalttourismus", berichtet Pilz. "Viele Fans fahren nur noch zu Auswärtsspielen, um dem Event ihren Stempel aufzudrücken. Sie sehen sich nicht mehr als unmündige Konsumenten."

Jahr für Jahr feiert die Bundesliga Besucherrekorde, in der vergangenen Saison strömten erstmals mehr als 13 Millionen in die Stadien der ersten Klasse, sie spülten eine halbe Milliarde Euro in die Kassen, dank Eintrittskarten und Fan-Artikel. Mehr als 12 000 Fan-Klubs garantieren das Überleben. Daraus wachsen Forderungen, in manchen Vereinen wurden Fan-Vertreter in den Aufsichtsrat gewählt. Beim HSV wollten Mitglieder des mächtigen "Supporters Clubs" Vorstandschef Bernd Hoffmann vor einem Jahr zum Rücktritt bewegen. Ultras genießen vielerorts Privilegien, dürfen Transparente in Räumlichkeiten der Vereine gestalten, eigene Fan-Artikel entwerfen - so werden sie Teil einer Unterhaltungskette. "Die Erwartungen steigen, und die Geduld mit dem Team nimmt weiter ab", sagt Michael Gabriel, Leiter der Koordinationsstelle Fan-Projekte (siehe Interview). Das Interesse am Sport werde geringer. Die Stimmung kann schnell umschlagen. Manchmal in 90 Minuten.

November 2009: Fans des Hamburger SV randalieren auf dem Bielefelder Hauptbahnhof, sie sind auf der Durchreise zum Spiel gegen Mainz, viele von ihnen sind stark alkoholisiert. Brandsätze fliegen, Flaschen, Stühle, zwei Geschäfte werden beschädigt. Der Zugverkehr wird gesperrt. Am Tag zuvor liefern sich Kölner Fans in Bochum Schlägereien mit der Polizei. Doch nicht nur die Erste Liga birgt Gefahren: Bei einem Spiel der A-Junioren leben Dortmunder und Schalker Hooligans ihre jahrzehntealte Rivalität aus. Nicht anders sieht es im Osten aus. Nach einem Spiel zwischen Halle und Magdeburg lockten Schläger Beamte in einen Hinterhalt. Täuschen eine Prügelei vor, schlagen dann zurück. Mit Steinen, Stangen, Nebelgranaten. Die Bilanz der Gewalt allein in der vergangenen Spielzeit: 830 Verletzte.

Das sind Beispiele, wie sie Woche für Woche vorkommen können, Beispiele, die einem Trend folgen: "Die Gewalt hat sich verlagert", bemerkt Soziologe Gunter A. Pilz. Die deutschen Stadien wurden seit der Bewerbung für die Weltmeisterschaft 2006 für fast zwei Milliarden Euro neu gebaut oder saniert. Kamerasysteme erfassen jeden Winkel der Arenen, und so toben sich gewaltbereite Fans auf Bahnhöfen oder Anfahrtswegen aus. Die klassischen Hooligans, die in den 80er- und frühen 90er-Jahren den Kick in der Gewalt suchten, haben sich für ihre Nahkämpfe in abgelegene Wälder und geschlossene Industriegebiete verabschiedet. Heute entstehen viele Konflikte im Affekt, nach gezielten Provokationen. Gunter A. Pilz hat eine neue Generation der Problemfans ausgemacht, er bezeichnet sie als "Hooltras". Eine Kreuzung aus Hooligans und Ultras.

Philipp Markhardt kann mit diesem Begriff wenig anfangen, er ist ihm zu verkürzt für eine komplexe Debatte. Der Anhänger des HSV und Sprecher der bundesweiten Fan-Vereinigung Pro-Fans möchte die Geschehnisse der Vergangenheit nicht verharmlosen. Doch nach seiner Meinung müsse auch die Polizei ihr Verhalten kritisch hinterfragen. "Ich habe schon vor zehn Jahren vor der Geschäftsstelle des Vereins protestiert, damals kam der Mannschaftsrat zu uns - heute ist es eine Polizeihundertschaft", sagt Markhardt. "Ich sehe nur Repression, aber keine Deeskalation. Die Polizei glaubt immer im Recht zu sein, und die Fans werden benachteiligt. Die Konsequenz wird sein, dass viele von ihnen radikaler werden. Irgendwann könnte es leider richtig knallen."

Die Einsatzzeit in den Stadien entspricht der Jahresleistung von 1260 Polizisten

Die Liste von Willkür und unverhältnismäßig harten Polizeieinsätzen gegen Fans ist lang. So stürmten im Juli 2009 Beamte eine Fan-Kneipe des FC. St. Pauli, sie benutzten Schlagstöcke und Reizgas. Einen nachvollziehbaren Grund hatten sie nicht. Im November 2008 waren 300 Frankfurter Fans in Bremen eingekesselt und in Gewahrsam genommen worden. Eine Straftat lag nicht vor. Viele von ihnen gehören dennoch zu den rund 11 000 Registrierten der "Gewalttäter Sport", einer Datei des Bundeskriminalamts. Das Verwaltungsgericht Hannover hatte die Sammlung von tatsächlichen und potenziellen Straftätern 2008 für rechtswidrig befunden, ihre Abschaffung ist trotzdem nicht geplant.

Für die Ultras ist die Polizei das Feindbild Nummer eins. Beide Seiten unternehmen wenig, um in einen Dialog zu treten. Rainer Wendt, Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), formulierte die kühne These: "Wer ins Stadion geht, begibt sich in Lebensgefahr." Die Einsatzzeit in den ersten drei Ligen sei auf den Rekordwert von rund 1,2 Millionen Stunden gestiegen, dies entspreche der Jahresarbeitszeit von 1260 Polizisten. Laut Wendt sollen DFB und Deutsche Fußball-Liga (DFL) einen Teil der Kosten übernehmen, die in der vergangenen Saison bei 80 Millionen Euro gelegen haben. Die private Finanzierung des polizeilichen Gewaltmonopols käme einer Revolution gleich. Der DFB beendete daraufhin die Zusammenarbeit mit der Deutschen Polizeigewerkschaft.

Helmut Spahn, der Sicherheitschef des DFB, verweist stattdessen auf positive Beispiele wie die deeskalierenden Kontaktbeamten in Hannover - und er hebt die Prävention hervor. 1,3 Millionen Euro investieren DFB und DFL jährlich in die 47 sozialpädagogischen Fan-Projekte, die Gewalt und Rechtsextremismus entgegenwirken sollen. Getragen werden die Einrichtungen auch von den jeweiligen Kommunen und Landesregierungen. Demnächst soll in einer breiten Studie untersucht werden, wie wirksam diese vorbeugende Arbeit überhaupt ist. Zudem wollen DFB und Gewerkschaft der Polizei, die Konkurrenz der DPolG, noch vor der Weltmeisterschaft in Südafrika einen großen Polizeigipfel veranstalten. Dann sollen Vorschläge der Innenministerkonferenz erörtert werden: etwa personengebundene Tickets oder ein kleineres Kontingent für Auswärtsfans.

Das sind Maßnahmen, die dem Roten Stern Leipzig nicht geholfen hätten. Die Spieler des Achtligaklubs wurden im vergangenen Oktober in der sächsischen Kleinstadt Brandis von 50 Neonazis während eines Spiels überfallen. Ein Ordner hatte den Angreifern einen Eingang geöffnet. "Scheiß Rote", brüllten sie, "scheiß Zecken." Mit Stangen und Holzlatten schlugen die Vermummten um sich. Für sie ist Roter Stern, ein Verein, der sich in vielen Aktionen gegen Rassismus eingesetzt hat, kein Fußballrivale, sondern eine politische Provokation. Rechtsextremistisch motivierte Vorfälle häufen sich in Sachsen seit Jahren. Wie können solche Attacken fernab des Profifußballs, fernab von Kameras, Ultras und Polizeihundertschaften verhindert werden? Eine schlüssige Antwort haben Funktionäre und Politiker nicht. Ein Fan von Roter Stern war in Brandis reglos liegen geblieben, er musste ins Krankenhaus. Er wollte doch nur seinem Hobby nachgehen. Fast hätte er sein Augenlicht verloren.

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