Der ehemalige Fußball-Profi Sergej Barbarez im Abendblatt-Interview mit Alexander Laux.

Hamburg. Abendblatt:

Herr Barbarez, wo werden Sie am Sonnabend um 21.30 Uhr sein?

Sergej Barbarez:

In Lissabon!

Abendblatt:

War das sofort klar, Bosniens Team zu begleiten?

Barbarez:

Das ergab sich durch Telefonate mit Freunden. Ich reise privat mit zehn Mann an, alles fanatische Fans der Nationalelf. Und mit 5000 Landsleuten.

Abendblatt:

Versuchen Sie doch mal in Worte zu fassen, was die WM-Qualifikation für Ihr Land bedeuten würde?

Barbarez:

Es wäre für das ganze Land eine unheimliche Dimension. Einfach Wahnsinn.

Abendblatt:

2003 war Ihr Land zuletzt kurz davor, erstmals bei einem großen Turnier vertreten zu sein. Ein Sieg gegen Dänemark fehlte bei der Qualifikation zur EM in Portugal.

Barbarez:

Das war das emotionalste Spiel meiner Karriere.

Abendblatt:

Sie spielten nur 1:1.

Barbarez:

Der größte Fehler war, dass wir zwei Stunden vor dem Anpfiff rausgingen. Im Stadion von Sarajevo waren sicher 60 000 Menschen, 15 000 mehr als erlaubt. Ich glaubte, die Luft brennt, ich schwöre es! Schon vor dem Spiel hatte ich Tränen in den Augen. So etwas werde ich überhaupt nie mehr erleben, nicht nur im Fußball. Ich habe jahrelang versucht, das mit Worten zusammenzufassen, was in mir vorging. Es bräuchte schon einen richtig guten Schriftsteller. Es war das einzige Mal, dass ich nach einem Spiel geweint habe.

Abendblatt:

Was lief falsch?

Barbarez:

Irgendwann entstand durch die Euphorie ein gewaltiger Druck.

Abendblatt:

Damals haben sie eine mögliche Qualifikation als das achte Weltwunder bezeichnet. Und heute? Wenn man die vielen Klassespieler sieht, Dzeko, Misimovic, Ibisevic ...

Barbarez:

... es wäre immer noch eine Überraschung, Portugal ist im Vorteil. Was uns noch immer fehlt, sind genau diese Spiele. Deutschland hat auf diesem Niveau Erfahrung ohne Ende.

Abendblatt:

Wird sich wieder eine ähnliche Spannung aufbauen?

Barbarez:

Ganz sicher, egal wie das Hinspiel auch ausgeht. Vom Charakter her sind wir sehr euphorische Menschen. Umgekehrt lassen wir Spieler uns gerne vom Volk tragen. Das war schon immer das größte Problem. Wir sind gut, aber wir dachten dann, wir sind die Allergrößten - und spielten automatisch mit einem Gang weniger.

Abendblatt:

Bosnien-Herzegowina hat nur 4,5 Millionen Einwohner. Schon erstaunlich, wie viele gute Fußballer es dort gibt.

Barbarez:

Das ist von Gott gegeben, diese Ecke ist eine Goldgrube, was Talente angeht. Uns muss man nur den Kopf ein bisschen ...

Abendblatt:

... einstellen?

Barbarez:

Richtig. Der Erfolg kam, weil sie bereit waren, im Westen die guten Dinge zu übernehmen. Talent haben sie von zuhause. Wer behauptet, dass Straßenfußballer aussterben: Bei uns gibt es sie noch. Ich habe in Hamburg lange gekämpft, dass man sich meine Kollegen anschaut. Aber man hat nicht so richtig Bock gehabt, sich um diese Spieler zu kümmern.

Abendblatt:

Das dürfte sich geändert haben.

Barbarez:

Jetzt wird gefragt: Gute Jungs, wo kommen sie her?

Abendblatt:

Sie kamen 1991 im Alter von 20 Jahren aus Bosnien. War das damals okay?

Barbarez:

Das war nicht okay. Ich war ein richtiges Mamasöhnchen, nie zuvor einen Tag weg. Erst die Armee hat mich richtig verändert. Das war der letzte Jahrgang vor dem Krieg. Ohne die Zeit bei der Armee hätte ich es hier nicht geschafft.

Abendblatt:

Was haben Sie beim Militär gelernt?

Barbarez:

Ein Mann zu sein. Mich selbst zu kümmern, zu planen. Und meine Disziplin. In Deutschland habe ich sie dann schleifen lassen... (lacht) . Aber im Ernst: Das war die Basis, die bis heute sehr hilfreich ist.

Abendblatt:

Wie denken Sie heute über den Bürgerkrieg? Ist das Thema für Sie abgeschlossen?

Barbarez:

Abschließen muss man das. Du musst leben, aufbauen, was kaputtgemacht wurde. Vergessen kann man das nie.

Abendblatt:

War Ihre Familie direkt betroffen vom Krieg?

Barbarez:

Zum Glück nicht. Aber ich kannte viele, die gestorben sind. Für was? Das sieht man jetzt. Für nichts. Ich war auch damals so enttäuscht, dass ich eigentlich nie mehr nach Bosnien zurückkehren wollte. Es hat am Ende sieben Jahre gedauert, als ich die Einladung zur Nationalmannschaft erhielt.

Abendblatt:

Es muss ein beklemmendes Gefühl gewesen sein.

Barbarez:

Besonders in meiner Geburtsstadt Mostar. Die Stadt ist geteilt in Moslems und katholische Kroaten. Das ist das schlimmste, was es gibt. Ich erlebe beide Seiten, kenne überall Leute. Du spürst immer noch diese Atmosphäre. Mostar kann sich seit eineinhalb Jahren nicht auf einen Bürgermeister einigen. Politisch ist das alles eine einzige Katastrophe.

Abendblatt:

Wie geteilt ist das ganze Land noch?

Barbarez:

Ein Beispiel: Es gibt drei Präsidenten beim Verband, die sich alle 16 Monate abwechseln. Und wenn dann die ganzen Trainer nach einem nationalen Schlüssel aufgestellt werden..., das ist doch krank. Ich sage Ihnen was: Wenn ich komme, werde ich entweder fünf Minuten oder fünf Jahre Bundestrainer sein. Dann wird der Riesen-Besen rausgeholt, nach dem Motto: Ich oder die. Anders geht es nicht.

Abendblatt:

Sie absolvieren gerade in Sarajevo einen Lehrgang zum Fußballlehrer. Wann werden Sie Nationaltrainer sein?

Barbarez:

Ich würde es gerne machen. Aber das kann in ein paar Tagen, oder aber auch in fünf bis zehn Jahren sein. Vielleicht nie. Meine Geschichte ist schon speziell. Ich weiß, dass es sehr viele Spieler begrüßen würden, weil sie den Glauben haben, dass ich da was bewegen könnte.

Abendblatt:

Jetzt pendeln Sie regelmäßig zwischen den beiden Welten. Wenn Sie den Wohlstand hier sehen, denkt man nicht: Mensch, das müsste in Bosnien besser laufen?

Barbarez:

Ich sage nicht, dass alles schlecht ist. Ich liebe meine Heimat so, wie sie ist und bin stolz, aus Bosnien zu kommen. Dieser Stolz prägt und macht Hoffnung, dass es besser wird. Muss es auch. Schlechter kann es nicht werden.

Abendblatt:

Das klingt ziemlich fatalistisch.

Barbarez:

Die ganze Welt ist von der Krise erschüttert worden. Wir waren schon unten, und dann kriegst du noch mal was drauf. Trotzdem fühle ich mich so wohl, wenn ich unten bin. Dort kann ich meine Batterien aufladen. Hier in Deutschland verbraucht man sich mehr.

Abendblatt:

Könnte eine WM-Qualifikation überhaupt einen identitätsstiftenden Effekt haben?

Barbarez:

Ich glaube schon. Man könnte in dieser Zeit sehr viele Fragen stellen und versuchen, Antworten zu finden. Oder einfach Leute bewegen, sich nahe zu kommen.

Abendblatt:

Wie politisch sind Sie?

Barbarez:

Ich hatte schon sehr viele Angebote. Ich frage dann gerne: Wollt Ihr mich ausnutzen, weil ich populär bin? Im Moment läuft was in Sachen Bürgermeister-Amt in Mostar. Aber das ist nicht meine Liga.

Abendblatt:

Was ist Ihre Liga? Sie haben Ihre aktive Karriere 2008 beendet. Wie kommen Sie mit Ihrem neuen, zweiten Leben klar?

Barbarez:

Mir war extrem wichtig, selbst zu bestimmen, wann ich aufhöre. Das ist mir gelungen. Ich habe super von der aktiven Karriere abgeschaltet, vermisse nichts. Jetzt versuche ich einen ähnlichen Weg zu gehen wie als Spieler. Unten anzufangen. Ich würde gerne als Co-Trainer in der Ersten Liga starten, von einem guten Chef lernen, wie man eine Gruppe als Pädagoge führt. Mir haben meine früheren Trainer immer gesagt: Du kannst das, du wirst mal ein guter Trainer sein.

Abendblatt:

Seit Januar sitzen Sie im Aufsichtsrat des HSV. Zufrieden bisher?

Barbarez:

Ich würde das jedem Ex-Fußballer empfehlen. Eine super Erfahrung, mit diesen Leuten zusammenzusitzen.

Abendblatt:

Bewerten Sie manches jetzt anders?

Barbarez:

Als Fußballer machst du dir keine Gedanken über den Verein. Jetzt habe ich eine andere Meinung. Ich weiß, wie ein Verein jeden Tag lebt, sein Budget rechtfertigen muss. Ich habe am Anfang genau beobachtet, wie das abläuft, weil andere schon Erfahrung mit Aufsichtsräten haben. Das ist schon niveauvoll.

Abendblatt:

Ist es nicht komisch, dass Sie nicht im Gremium sitzen, das den Sportchef sucht?

Barbarez:

Das weiß ich nicht. Grundsätzlich glaube ich: Wenn der Aufsichtsrat eines Vereins eine so schwere Aufgabe hat, müssten vielleicht nicht die Hälfte, aber mindestens vier Leute dort sein, die richtig was mit Fußball zu tun haben. Mit acht kann man immer noch finanziell sehr viel bewegen und den ganzen Verein kontrollieren. Wir haben das nicht. Aber, sagen wir so, es wäre hilfreich.