Auf den Plakaten in Moskau vermittelt Andrej Arschawin den Eindruck, als wäre er gegen seinen Willen in einen dunklen Anzug gesteckt worden, als hätte ihm jemand im Vorbeigehen eine Krawatte um den Hals geschnürt.

Moskau. Wie ein Spätpubertierender sieht er aus, auf dem Weg zum Abiball, vielleicht zur Kirche. Ein Ablenkungsmanöver, das viele seiner Landsleute lustig finden: Arschawin, äußerlich Babyface, schüchtern wirkend, kann auf dem Rasen jeden Gegner in den Wahnsinn dribbeln. Ob Deutschland darauf hereinfällt?

Wie kein Zweiter symbolisiert Arschawin (28) den Aufbruch des russischen Fußballs. Während der EM 2008 führte er die Sbornaja überraschend ins Halbfinale. Dabei war er wegen einer Roten Karte aus der Qualifikation in den ersten beiden Turnierspielen gesperrt. Arschawin betrat die Bühne mit Verspätung und stieg zum Hauptdarsteller einer Werbewoche auf, die erahnen ließ, dass die russische Auswahl zu einem prägenden Team Europas werden kann. Für die WM 2010 in Südafrika lautet die Zielvorgabe Achtelfinale. Zweimal ist die Mannschaft seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion in der WM-Vorrunde gescheitert, zweimal verpasste sie das Turnier.

Arschawin weiß, was Aufbruch bedeutet. Er hat die Niederungen kennengelernt wie das 1:7 in der WM-Qualifikation gegen Portugal 2004, und er kennt das Gegenteil. 2008 führte er seinen Heimatverein Zenit St. Petersburg zum Gewinn des Uefa-Pokals. Im vergangenen Februar verließ er sein Königreich, um im Ausland als Bediensteter von vorn zu beginnen. Und siehe da, beim FC Arsenal London, in der begehrtesten und spielstärksten Liga der Welt, behauptete sich Babyface besser, als die meisten erwartet hatten. Im April schoss er beim 4:4 gegen Liverpool alle Tore seiner Mannschaft. Der 1,72 Meter große Arschawin wuchs schnell zu einem Riesen heran. Irgendwann will er mit seinem Nationalteam einen Titel holen, 1960 hat die UdSSR die EM gewonnen. Lange her.

Mit Arschawin hat sich der gesamte russische Fußball geöffnet. Von den EM-Teilnehmern 2008 war nur ein Spieler im Ausland aktiv, Ivan Sajenko, damals 1. FC Nürnberg. Der niederländische Trainer Guus Hiddink, der die Russen seit 2006 betreut, forderte seine Kicker auf, es sich in der Heimat nicht zu bequem zu machen. Die Oligarchen von Zenit und ZSKA Moskau können zwar Millionengagen finanzieren, dauerhaft gefordert werden die Spitzenspieler selten, ein großes sportliches Gefälle prägt die Premjer-Liga. Inzwischen steht Stürmer Roman Pawljutschenko in Tottenham unter Vertrag, Kollege Pawel Pogrebnjak sucht in Stuttgart sein Glück. Der rasende Abwehrspieler Juri Schirkow misst sich mit den Größen des FC Chelsea, Dinijar Biljaletdinow kickt in Everton. "Wir lernen jeden Tag", sagt Arschawin.

Es ist ein Anfang, nicht mehr. Während der WM 1994 waren es zwölf Russen, die ihren Horizont im Ausland erweiterten. Doch keiner war mit einem Talent gesegnet war wie Arschawin. Er läuft nicht übers Spielfeld, er gleitet, den Ball als Tanzpartner, die Gegner als Komparsen. Wenn er denn will. Es gibt Halbzeiten, da scheint sich Arschawin hinter der Eckfahne zu verstecken, um kurz darauf wie eine Raubkatze aufs Tor zu stürzen. Auch deshalb gewährt Hiddink ihm Freiraum. Arschawin füllte in St. Petersburg mehrere Rollen aus, Modedesigner, Werbefigur, Politiker, Autor Der Fußball litt darunter kaum.

Hiddink hat den eisernen Vorhang geöffnet, er setzt auf Förderung seiner Freigeister, weniger auf den Drill eines hierarchischen Kollektivs. Das Heimspiel gegen Deutschland am Sonnabend wird für Russland eins der wichtigsten des Jahrzehnts. Der Verband hätte das Luschniki-Stadion mehrfach füllen können. Andrej Arschawin wird eine Bühne vorfinden, für die er einst mit dem Fußballspiel begonnen hat. Seine Landsleute trauen ihm zu, ein Weltstar zu werden. Viele hat es im russischen Fußball nicht gegeben. Es war genau einer: der legendäre Torwart Lew Jaschin.