Es gibt eine Kanzlerin, 45 000 Bäcker, mehr als 700 000 Handwerker, viel zu viele Politessen und rund 80 Millionen Fußball-Bundestrainer in Deutschland.

Kein Wunder also, dass sich Joachim Löw manchmal fragt, ob es vielleicht nicht doch besser gewesen wäre, nach seiner Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann in der Branche zu bleiben, statt Trainer und später sogar Nationaltrainer zu werden. In kaum einen Berufszweig gibt es wohl so viele Menschen - insbesondere in den Sportredaktionen der Republik -, die meinen, alles besser zu wissen als Löw.

Ganz so schlimm ist es in Wahrheit natürlich nicht. Aber wie unterschiedlich die Meinungen doch sind, durfte Jogi Löw erst wieder am Freitag erfahren, als er sein Aufgebot für die WM-Qualifikationsspiele gegen Russland und Finnland bekannt gab. Erstmals nominierte der Bundestrainer Hamburgs Jerome Boateng und erhielt dafür in etwa so viel Zustimmung und Verständnis wie Unverständnis und Kopfschüttelns für die Entscheidung, erneut auf Leverkusens Stefan Kießling zu verzichten.

Als einer von 80 Millionen Bundestrainern erlaube ich mir, zunächst die Beförderung Boatengs zu kommentieren. Der Hamburger, der in der Viererkette links, rechts und zentral einsetzbar ist, hat sich seine Nominierung redlich verdient. Der 21-Jährige ist in der Form seines jungen Lebens, hat am vergangenen Wochenende vor den Augen Löws Bayern-Star Arjen Robben und dessen kongenialen Partner Franck Ribéry in die Schranken verwiesen und könnte dem Nationalteam bereits gegen Russland entscheidend auf dem Weg nach Südafrika weiterhelfen. Von Bundestrainer zu Bundestrainer: Kompliment für diese Entscheidung.

Gerne helfen würde sicherlich auch Bayer-Stürmer Stefan Kießling, der wie Boateng in toller Form ist, anders als der HSV-Star aber nicht nominiert wurde. "Ich sehe keinen Grund, dass wir uns rechtfertigen sollen", sagt Löw, dem die sechs Saisontore Kießlings für eine Nominierung offenbar nicht reichten. Der Bundestrainer setzt lieber auf Cacau (null Saisontore), Miroslav Klose (null), Lukas Podolski (eins) und Mario Gomez (drei). Sorry, Herr Löw! Diese Entscheidung teile ich nicht. Kießling hat bereits die Form, die seine Kollegen noch suchen. Deutschlands andere 80 Millionen Nationaltrainer werden deshalb jedenfalls ganz genau hinschauen, und gegebenenfalls nach dem Spiel behaupten, dass sie es schon vor dem Spiel geahnt haben. Sollten Gomez und Klose doch treffen, kann man ja immer noch die Kanzlerin kritisieren.