Schewtschenko wurde als Fußball-Rentner verspottet. Gegen Schweden strafte er die Kritiker Lügen

Kiew. Andrej Schewtschenko hat sich selbst einmal als Poeten des Fußballs bezeichnet: "Wenn ich spiele, ist es, als würde ich ein Gedicht schreiben." Am Montag in Kiew schrieb Schewtschenko, um im Bild zu bleiben, kein Gedicht, sondern einen Gassenhauer. Im ganzen, sonst in vielen Fragen so gespaltenen Land wurden nach jedem seiner Kopfballtore zum 2:1 gegen Schweden die Raketen in die Luft geschossen. "Der Fußball ist das Einzige, was die Ukraine eint", hat der Literat Sergej Schadan in seiner EM-Fibel "Totalniy Futbol" geschrieben, und die Kritik aus dem Westen an Organisation und politischen Verhältnissen hatte die Sehnsucht nach einer anständigen Party nicht gerade kleiner gemacht. Nur drei der 16 EM-Mannschaften konnten sich zu einem Quartier in der Ukraine durchringen, aber zumindest nach der ersten Runde schlägt das Herz dieses Turniers erst einmal in Kiew.

Was dies für Schewtschenko bedeutet, ließ sich an seinen Reaktionen nach den Toren erahnen. Der 35-Jährige ist kein Spieler für die großen Gesten, aber nach seinem ersten Treffer rutschte er zum Rendezvous mit der Eckfahne, und nach dem zweiten lüftete er euphorisch sein Trikot. "Das ist ein großer Tag für die Ukraine", sagte er später. Ihn gestalten zu können hätte er vor einem halben Jahr nicht für möglich erachtet.

Da wollte Schewtschenko schon aufgeben. Das Knie schmerzte, der Rücken zwickte, er war nicht einmal mehr ein Schatten seiner selbst. In der Liga für Dynamo Kiew schaffte er allenfalls noch jedes zweite Spiel, sogar das Undenkbare trat ein: Europas Fußballer des Jahres 2004, einst der Stolz einer ganzen Nation, wurde immer öfter kritisiert. Nationaltrainer Oleg Blochin halte nur an ihm fest, weil es der mächtige Verbandschef und Kiewer Patron Grigori Surkis so befehle, schimpften sie im Osten des Landes, in Donezk oder Charkow. Blochin freilich ließ sich nicht beirren. Ukraines Fußballidol aus Sowjetzeiten stellte Schewtschenko vor die Wahl: Entweder du beißt dich als Spieler durch, oder ich nehme dich als Berater mit. Eine Heim-Europameisterschaft ohne "Schewa" werde es unter seiner Fuchtel jedenfalls nicht geben.

Und Schewtschenko biss sich durch. Wenn die Heimat rief, hat der Offizierssohn noch immer zugehört. Sicher, er ließ sich in seiner Zeit im Westen, beim AC Milan und Chelsea, gern von den Patriarchen Silvio Berlusconi, Taufpate seines Sohns, und Roman Abramowitsch bezirzen. Aber immer begleitete ihn ein tiefer Patriotismus.

Auf dem Höhepunkt seiner Karriere, gerade ausgezeichnet mit dem Goldenen Ball, sagte er 2004: "Ich widme den Titel allen Ukrainern, die momentan eine schwere Zeit durchmachen." Es waren die Tage der Orange Revolution, und Schewtschenko geriet vorübergehend ins Zentrum der politischen Händel. Eine freundliche Äußerung über den damaligen Wahlschummler und heutigen Präsidenten Wiktor Janukowitsch wurde ihm von dessen Gegnern sehr verübelt. Bis er betonte, er habe nur eine menschliche, keine politische Aussage treffen wollen.

Heute ist das kein Thema mehr. In diesen Tagen stehen allein die Spiele gegen Frankreich und England im Fokus. "Wir sollten in dieser Gruppe weiterkommen", sagt Schewtschenko, dessen Euphorie nach dem Schweden-Sieg nur für einen Moment getrübt wurde: Wenige Stunden nach seinem Doppelpack rammte ein Geländewagen das Auto des Fußballstars, der an einem Fußgängerüberweg wegen jubelnder Anhänger in die Bremsen stieg. Es entstand ein erheblicher Blechschaden, der zumindest die Fans erfreute: Poet Schewtschenko musste anschließend reichlich Autogramme schreiben.