Beim 1:1 gegen Welt- und Europameister Spanien zeigt die von Skandalen geplagte Squadra Azzurra ungeahnte Qualitäten

Donezk. Auch Italien hat jetzt seinen Mesut Özil, er heißt Antonio Cassano und ist ein ähnlich begabter Fußballer, aber darum soll es an dieser Stelle nicht gehen. Vielmehr um ein Foto, das seit gestern kursiert. Aufgenommen wurde es im Umkleideraum der italienischen Nationalelf nach dem 1:1 gegen Spanien in Danzig, und zu sehen ist Cassano mit nacktem Oberkörper und tätowiertem Arm, wie er einem prominenten Besuch die Hand schüttelt. Wo Özil mit Angela Merkel eine Frau empfing, kam zu Cassano ein Greis - der 86 Jahre alte Staatspräsident Giorgio Napolitano. Napolitano ist so etwas wie das Gewissen der Republik. Er ist weder auf Wählerstimmen angewiesen noch auf gute PR. Hier braucht kein Politiker den Fußball. Hier brauchte der Fußball mal den Politiker.

Mit dem Calcio wollte schließlich zuletzt niemand mehr so recht etwas zu tun haben. Angesichts des jüngsten Skandals um illegale Wetten und Spielabsprachen regte Ministerpräsident Mario Monti sogar eine mehrjährige Spielpause an. Napolitanos Besuch soll viele Spieler vor diesem Hintergrund ehrlich gerührt haben, hieß es aus der Kabine. Der wegen seiner privaten Zockerleidenschaft ins Visier der Ermittler geratene Kapitän Gianluigi Buffon wählte gar eine persönliche Form der Abbitte, er überreichte Napolitano sein Trikot - kleine Warnung inklusive: "Presidente, das ist durchgeschwitzt."

Napolitano, der noch fragte, ob er es waschen dürfe, wird es dennoch in Ehren halten, als Relikt eines furiosen Auftritts. Denn Italien spielte anders Fußball als früher: positiv, originell, mutig. Seit Beginn des spanischen Tiki-Taka-Imperiums hat sich keine Mannschaft getraut, den Welt- und Europameister in eine derart offene Schlacht zu verwickeln. Die Erneuerung, an die außerhalb des Platzes viele nicht mehr glauben, auf dem Spielfeld ist sie gelungen.

"Das ist mein Italien", sagte Cesare Prandelli nicht ohne Stolz. Der Nationaltrainer hat seit seiner Amtsübernahme vor zwei Jahren oft darüber referiert, dass der italienische Fußball vor allem eine andere Haltung benötigt. Weniger zynisch, weniger misstrauisch, nicht nur resultatgetrieben. Gleich bei Prandellis erstem Turnierspiel setzte das Team diese Vorgabe bravourös um. Verbandschef Gianluigi Abete ergriff sogleich die Gelegenheit zu betonen, dass der ehemalige Juventus-Spieler und Fiorentina-Coach bei ihm ein für italienische Nationaltrainer vollkommen neues Privileg genießt - eine erfolgsunabhängige Jobgarantie.

Gegen Spanien zeigte sich Prandellis Courage an zahlreichen Personalentscheidungen. Ein Sturmduo aus Cassano und dem noch divaeskeren Mario Balotelli würden nicht viele Trainer aufbieten, einen Debütanten - Emanuele Giaccherini - in einem so schwierigen Spiel nicht viele Kollegen einsetzen. Vor allem aber imponierte das 3-5-2-System mit dem Mittelfeldmann Daniele De Rossi als zentralem Abwehrspieler. Typisch für Prandellis Denken ist dabei, dass ihm der Römer die Rolle noch zu vorsichtig interpretierte. "De Rossi hat gut gespielt, ich hätte ihn in manchen Situationen nur gern ein wenig weiter vorn gesehen." Veteranen vom WM-Titel 2006 wie De Rossi oder Buffon für sein Projekt eingenommen zu haben zeugt von Prandellis Trainerklasse.

Sein neues Italien schlägt auch die Brücke zur Vergangenheit. Nirgendwo ist das deutlicher zu sehen als in der Person des Strippenziehers Andrea Pirlo. Wie der 33-Jährige Regie führte, wie er mit seinen Bewegungen den Rest der Mannschaft verschob, wie er dem eingewechselten Antonio Di Natale das Tor auflegte, war ein Genuss. In seinem Einfluss auf das Spiel war er der wichtigste Mann. "Unsere Leistung gibt uns eine gute Injektion Selbstvertrauen für die nächsten Spiele", sagte Pirlo.

In den Worten eines Staatspräsidenten hört sich das so an: "Die Art und Weise, in der die Mannschaft sich eingesetzt hat und dafür Wertschätzung empfängt", sagte Napolitano, "ist eine Bestätigung für den Geist der Würde und des Nationalbewusstseins, die wir versuchen zu verbreiten."