Dortmund. Verzweifelte Fans, ein weinender Trainer und ausgepowerte Profis - der demütigende Knockout im Meisterkampf macht dem BVB mächtig zu schaffen. Wie schnell wird das Titel-Trauma verarbeitet?

Der Borsigplatz war menschenleer, die Innenstadt wie ausgestorben. Nach dem epischen Fußball-Drama trug Dortmund Trauer. Statt 300.000 Fans beim eigentlich geplanten Autokorso durch die City warteten 100 Unentwegte am Trainingsgelände auf die BVB-Profis.

Aus einer rauschenden Titelparty am Ende einer denkwürdigen Saison wurde ein eher stilles Teamtreffen mit vielen noch immer betretenen Gesichtern. Medien-Schlagzeilen wie die vom „größten Versagen der Bundesliga-Geschichte“ drückten zusätzlich auf die Stimmung aller Beteiligten.

Bilder vom weinenden Trainer Edin Terzic vor der imposanten Südtribüne oder von verzweifelten Profis auf dem Rasen werden allen Beteiligten für immer in Erinnerung bleiben. „Sportlich war es das Schwierigste und Bitterste, was man sich vorstellen kann. Das heute gehört ab sofort auch zu unserem Weg“, gestand Terzic nach dem 2:2 (0:2) gegen den FSV Mainz 05, mit dem der Club im Saisonfinale die sicher geglaubte Meisterschaft verspielte.

Vereinsboss Hans-Joachim Watzke war ebenfalls tief getroffen. „Es schmerzt sehr. Ich mache diesen Job schon lange, aber gestern hat es sich noch schlimmer angefühlt als das verlorene Champions-League-Finale 2013“, sagte der Geschäftsführer dem „Kicker“ mit Blick auf das damalige Endspiel gegen den FC Bayern München (1:2).

Bayerns Musiala besiegelt BVB-K.o.

Im packenden Duell der Branchenführer zog der Revierclub zum wiederholten Mal den Kürzeren - diesmal auf besonders qualvolle Weise. Der späte und entscheidende Treffer von Jamal Musiala (89. Minute) zum 2:1-Sieg der Münchner in Köln sorgte für eine der wohl größten Demütigungen in der Vereinsgeschichte. „Das wird schwer, das Ganze zu verarbeiten. Das wird länger als ein paar Tage dauern“, klagte Abwehrchef Mats Hummels.

Bei vielen Fans in Fußball-Deutschland wurden Erinnerung an das Missgeschick von Bayer Leverkusen am Ende der Saison 1999/2000 wach, das dem Club den wenig schmeichelhaften Beinamen „Vizekusen“ einbrachte. Oder an das Unglück der Schalker in der Spielzeit 2000/01, als sich die Königsblauen vier Minuten als Titelträger feiern ließen und am Ende nur „Meister der Herzen“ wurden. Nun reiht sich auch der BVB in die Phalanx der spektakulär gescheiterten Vereine ein.

Wird dieses Titeltrauma auch in Dortmund unerwünschte Langzeitschäden hinterlassen? Schon wenige Minuten nach dem Schlusspfiff versuchten alle Beteiligten, die bösen Geister zu vertreiben. „Egal, wie groß der Schmerz heute ist, er wird die Motivation für morgen sein“, sagte Terzic. Vereinsboss Watzke klang bei aller Verzweiflung ähnlich kämpferisch: „Der BVB ist ein Verein, der sich von so etwas schnell erholt. Wir sind im Ruhrgebiet dazu verdammt, immer wieder aufzustehen.“

Dass die BVB-Aktie auf der Handelsplattform Tradegate am Pfingstmontag im vorbörslichen Handel einbrach, mag man noch als kurzfristigen Effekt abtun. Schwerer dürften die sportlichen Folgen wiegen. Längst laufen die Saisonplanungen unabhängig vom finalen Knock-out auf Hochtouren. Neben Anthony Modeste, Mahmoud Dahoud, Felix Passlack und Luca Unbehaun wird auch Raphael Guerreiro den Revierclub verlassen. „Diese Abschiede sind angesichts des Nervenkitzels, den ich beim Spielen in diesem wunderbaren Stadion empfand, offensichtlich die schwersten meiner Karriere“, kommentierte der von BVB-Kapitän Marco Reus getröstete weinende Guerreiro auf seinem Instagram-Account.

Wechselt Bellingham nach Madrid?

Ein noch größerer sportlichen Substanzverlust dürfte der Abgang von Jude Bellingham sein. Der Wechsel des 19 Jahre alten englischen Nationalspielers zu Real Madrid gilt als ausgemachte Sache. Nach der Mannschaftssitzung am Pfingstsonntag signierte der inzwischen zum „Spieler der Saison“ gewählte Jungstar Fußballschuhe und überreichte sie einem BVB-Ordner. Viele Beobachter werteten dies als Indiz für das nahe Goodbye. Viel wird davon abhängen, wie klug der BVB den vermuteten 120-Millionen-Euro-Transfererlös zur Verstärkung des Teams einsetzt. „Wir werden wieder aufstehen. Wir werden ab einem gewissen Moment auch wieder angreifen“, versprach Sportdirektor Sebastian Kehl.

Mut macht allen Beteiligten die Reaktion der Fans, die Terzic und die Profis mit Sprechchören feierten. „Klar waren erst alle enttäuscht und wussten nicht, wohin mit den Emotionen. Und trotzdem blieb das Stadion beinahe komplett gefüllt und eure Anfeuerungen und Aufmunterungsversuche waren außergewöhnlich“, kommentierte Hummels voller Dank an den Dortmunder Anhang. Nicht zuletzt deshalb sieht der Weltmeister von 2014 die Mannschaft in der Pflicht: „Wir kommen wieder.“