Neapel/Udine. Die Befürchtungen bewahrheiten sich: Die exzessive Meisterfeier in Neapel wird von Ausschreitungen überschattet.

Ganz Italien war in dieser Nacht blau gefärbt. In den Umkleidekabinen in der Dacia Arena in Udine sprühten feiernde Napoli-Spieler sich völlig ausgelassen gegenseitig blaue Farbe ins Haar. Mit einem mühsam erkämpften 1:1 bei Udinese Calcio hatte die SSC Neapel kurz zuvor den dritten Meistertitel des italienischen Traditionsklubs auch mathematisch sicher gemacht. Ganz in Blau war dann auch das Stadion in Udine. Normalerweise herrschen dort weiß und schwarz vor, wie bei Juventus Turin. Ein Platzsturm nach Schlusspfiff spülte aber eine Woge von Fans in blauen Neapel-Trikots auf den Rasen. Die Spieler des neuen Meisters waren in der Menge nur daran zu erkennen, dass sich um jeden einzelnen von ihnen Trauben von Fans bildeten, die Selfies schossen.

Sohn eines lokalen Mafiabosses stirbt

Noch schriller war die Stimmung in Neapel. Feuerwerkskörper ließen an Silvester erinnern. Lieder und Sprechchöre erfüllten die Straßen bis zum Morgengrauen. Leider gab es auch Verletzte und sogar einen Toten zu beklagen. Laut italienischen Medien handelt es sich um den Sohn eines lokalen Mafiabosses. Hintergrund ist möglicherweise eine Abrechnung unter rivalisierenden Clans, für die ausgerechnet das Drunter und Drüber der Feierlichkeiten genutzt wurde.

Für die SSC Neapel bedeutete der entscheidende Sieg in Udine ein lange ersehntes Ereignis. 33 Jahre ist der letzte Titelgewinn her, errungen mit, durch und dank Diego Armando Maradona. In der Zwischenzeit war man mehrfach nahe dran, allein vier Mal Zweiter in den vergangenen zehn Jahren und drei Mal Dritter. Das deutet auf Konstanz hin, zugleich aber auch auf den fehlenden letzten Biss. Dass es jetzt klappte, genau 33 Jahre später, also die Lebensspanne von Jesus Christus umfassend, wird in der abergläubischen Fanszene als ein Zeichen der Vorsehung gedeutet. Erst der Fußballgott Maradona, jetzt Jesus. Darunter macht man es in Neapel nicht.

Zwei Jahrzehnte hielt die italienische Vorherrschaft des Nordens

Allerdings können auch nüchternere Gemüter diesem Scudetto ein paar Wundermerkmale nicht absprechen. Napolis Triumph durchbrach zwei Jahrzehnte Vorherrschaft des Nordens. Seit 2002 kam der Meister stets aus Turin oder Mailand. Diese Serie zu beenden, ist bereits eine Leistung. Sie wird noch größer, wenn man auf die römischen Vereine Lazio und AS schaut, die in den Jahren 2000 und 2001 als Titelträger zum Zuge kamen. Sie gingen an diesen Erfolgen wirtschaftlich zugrunde, weil sie sich mit Gehältern übernommen hatten.

Jetzt bei der SSC Neapel geschah das genaue Gegenteil. Der Verein trennte sich von zahlreichen Großverdienern: Abwehrchef Kalidou Koulibaly wechselte in die Premier League, Mittelfeldstratege Fabian Ruiz heuerte bei Paris Saint-Germain an, Rekordtorschütze Dries Mertens wurde in die Türkei ziehen gelassen und Lokalheld Lorenzo Insigne vergoldet sich das Karriereende in Übersee. „Im Sommer hatte uns doch niemand auf der Rechnung als Titelkandidat“, blickte Trainer Luciano Spalletti zurück.

Neuzugänge schlugen komplett ein

Auch die Fans moserten damals. Niemand ahnte schließlich, dass die Neuzugänge Kvisha Kvaratskhelia und Kim Min-Jae so gut einschlagen würden. Kvaratskhelia wird wegen seiner Dribblings und Kunststöße schon länger Kvaradona genannt, in Anlehnung an den großen Diego. Und der Südkoreaner Kim verkörpert die Tugenden des modernen Innenverteidigers – kampfstark, beweglich und zugleich gut in der Spieleröffnung – so exzellent, dass man sich fragt, wo die Scouts der Großklubs nur ihre Augen hatten. Niemand ahnte im Sommer auch, dass ein lange unterschätzter Spieler wie Stanislav Lobotka sich zum besten Mittelfeldlenker der Serie A entwickeln würde. Und dass Victor Osimhen, der Mann mit der Maske, in schöner Regelmäßigkeit den Ball ins Tor befördert, war ebenfalls nicht gewiss.

Vielleicht war es genau diese Erwartungsflaute, die es Spalletti ermöglichte, ein Team zu entwickeln, das in gleich drei Bereichen brilliert. Neapel ist seit den Zeiten des Kombinationsgurus Maurizio Sarri als Hort des Kombinationsfußballs bekannt. Spalletti behielt diese Qualität bei. Er verhalf seinem Team aber auch zu mehr Tiefe, in dem er Mittelfeld- und Abwehrspieler zu langen Bällen auf Osimhen ermunterte. Zwischen Tiki-Taka und Kick & Rush ist bei dem aktuellen italienischen Meister alles möglich.

Die notorischen Abwehrschwächen sind dank der unglaublichen Athletik von Spielmacher Lobotka ausgemerzt, der in der Defensive als Staubsauger vor der Viererkette agiert. Spalletti machte jeden einzelnen Spieler besser. Und er fand für jeden auch den richtigen Platz im Ensemble. „Jetzt fehlt nur noch die Champions League“, gab Vereinspräsident Aurelio di Laurentiis als neues Ziel aus. Nichts scheint derzeit unmöglich im Schatten des Vesuvs.