Hamburg. Nach dem biederen Auftritt gegen Kiel versuchte man beim Kiezclub die positiven Dinge zu sehen. Warum das gefährlich werden könnte.

Spät am Dienstagabend an der Hoheluftbrücke. Wie der FC St. Pauli gegen Holstein Kiel gespielt habe, möchte ein älterer Herr wissen. 0:0 – er überlegt kurz: „Na, wenigstens nicht verloren!“ Der Mann hat die Realität erkannt: Am Millerntor herrscht mal wieder Abstiegskampf, da sinken die Ansprüche. Er liegt damit auf einer Linie mit Cheftrainer Timo Schultz. „Den Punkt nehme ich nach dem Spielverlauf mit“, hatte er nach dem wenig unterhaltsamen Nordduell gesagt.

Vor nicht einmal zwei Wochen noch, nach dem 1:1 gegen Tabellenführer SV Darmstadt 98, erklärte Lukas Daschner stellvertretend für das Team: „Ich mache mir keine Sorgen. Wir sind zu gut, um abzusteigen.“ Und Co-Kapitän Jackson Irvine sagte in der vergangenen Woche: „An Abstiegskampf denke ich nicht, dafür ist es zu früh.“

FC St. Pauli: Am Millerntor herrscht mal wieder Abstiegskampf

Zwei Spiele ohne eigenen Treffer später hat sich die Stimmung bei den Kiezkickern geändert. Wer jetzt noch die Gefahr im Tabellenkeller negiert, der hat den Schuss nicht gehört. „Es ist noch ein bisschen früh, jetzt Panik zu bekommen“, sagte der zweite Co-Kapitän Leart Paqarada – doch das unausgesprochene „aber“ war nicht zu überhören. „Für unsere aktuelle Situation war der Punkt zu wenig“, räumte Stürmer Johannes Eggestein ein. „Auf Dauer wird das nicht reichen.“

Eggestein gehörte zu den Stammspielern, die am Mittwochnachmittag nur ein leichtes Regenerationstraining absolvierten. Am Sonnabend (13 Uhr/Sky) steht schließlich schon das letzte Spiel der Zweitliga-Hinrunde beim ebenfalls zuletzt ins Straucheln geratenen Karlsruher SC an, der gar die jüngsten sechs Pflichtspiele durch die Bank verloren hat. „Die Stimmung ist natürlich nicht perfekt“, sagte Abwehrchef Eric Smith nach der Einheit. „Aber wir müssen uns jetzt darauf konzentrieren, unsere Leistung in Karlsruhe zu bringen und dort drei Punkte zu holen. Das müssen wir.“ Zu oft schon hat sich sein Team auswärts für einen schwächelnden Konkurrenten als idealer Aufbaugegner erwiesen.

Während bei vielen Spielen in dieser bisherigen Saison der Auftritt insgesamt stimmte, die spielerische Leistung gut bis sehr gut war, St. Pauli vor allem in den Heimspielen – aber nicht nur dort – dominierte, war davon am Dienstagabend nur wenig zu sehen gewesen. „Offenes Visier“ hatte Timo Schultz im Vorwege versprochen. Er hatte sich getäuscht.

FC St. Pauli: Mutiger Angriffsfußball war selten

Mutiger Angriffsfußball war selten an diesem Abend. Stattdessen hat offenbar nun doch die Verunsicherung Einzug in die Köpfe gehalten. Bloß keinen Fehler machen, keinen Ballverlust riskieren. „Ich hätte mir in der einen oder anderen Situation mehr Selbstvertrauen gewünscht“, erklärte Schultz nach dem Spiel, „dass wir unser Herz mehr in die Hand nehmen, fußballerische Lösungen suchen.“

Diese Blockade oder Unfähigkeit in Drucksituationen ist ein oft beobachtetes Phänomen im Sport. „In der Psychologie unterscheiden wir zwischen lage- und handlungsorientierten Spielern“, erklärte der Sportpsychologe René Paasch von der Deutschen Hochschule für Gesundheit und Sport in Unna dem Newsportal „Watson“. „Die lageorientierten Spieler beschäftigen sich öfter mit den äußeren Einflüssen. Diese Spieler können den Kopf nicht ausschalten und rufen dadurch auch verminderte Leistungen ab.“

Nun hat der FC St. Pauli eine ganze Reihe sehr reflektierter Spieler im Kader, Profis, die sich Gedanken machen. Nicht nur über den korrekten Vollspannstoß, sondern auch über die Welt um sich herum. Dies ist so gewünscht und muss bei einem Club mit dem gesamtgesellschaftlichen Anspruch des Vereins wohl auch so sein. In der sportlichen Krise aber kann das durchaus ein Nachteil sein.

„Das war das schlechteste Spiel seit Monden“

Entsprechend konsterniert war auch die Stimmung auf den Rängen. Die Ultras lieferten zwar auf der Südtribüne ihren monotonen Singsang ab, den sonstigen Zuschauern blieben angesichts der dürftigen Darbietung jedoch die Anfeuerungsrufe im Halse stecken. Vorbehaltlose Unterstützung „geht eben nicht, wenn der Druckabfall auf dem Platz immer augenscheinlicher wird“, kommentierte denn auch der Blog „Magischer FC“. „Das war das schlechteste Spiel seit Monden“, twitterte der Fan „Punk Sauli“ stellvertretend für viele, „da war der Kackstift so lang wie ein Pferdeschweif.“

Zu der Verunsicherung kommt augenscheinlich bei einigen Leistungsträgern inzwischen auch eine körperliche Ebbe. Die Dauerbrenner Leart Paqarada, Jackson Irvine und Marcel Hartel wirkten überspielt und nicht wirklich spritzig. „Viele unserer Jungs haben durchgespielt, das merkt man dann am Ende des Jahres auch“, räumte Schultz ein. Aber die personellen Alternativen sind eben begrenzt. Dass im Angriff in der Winterpause personell und qualitativ nachgelegt werden muss, ist oft beschrieben worden. Auch im Mittelfeld würde eine weitere Verstärkung helfen.

Mittelfeldspieler Marcel Hartel hofft, in der Pause den Kopf freizubekommen

Um nicht weiter in die Abwärtsspirale aus Druck, Unsicherheit und Fehlern zu geraten, bemühen sich die Beteiligten vor dem finalen Auswärtsspiel beim Karlsruher SC nun vor allem darum, das Positive aus dem Unentschieden im Nordduell zu ziehen. Das halbleere Glas wird halbvoll geredet. „Ich sehe die Qualität jeden Tag im Training, es fehlen nur Kleinigkeiten“, meinte etwa Eric Smith.

Seit der Schwede als eine Art „Libero“ zentral in der Dreier-Abwehrkette spielt, ist die Defensivleistung relativ stabil, obwohl die Stamm-Innenverteidiger David Nemeth und Jakov Medic verletzt ausfallen. Gegen Kiel kam jetzt wegen der Rotsperre von Betim Fazliji der 20 Jahre alte Marcel Beifus zu seinem ersten Saisoneinsatz in der Zweiten Liga und machte seine Sache gut. „Wir haben die Null gehalten, das war wichtig“, sagte auch Smith, „wenn uns das öfter gelingt, werden wir auch mehr Punkte holen.“

Einmal noch nach Karlsruhe. Dann ist WM- und Winterpause. Am 29. Januar erst beginnt mit dem Auswärtsspiel beim 1. FC Nürnberg die Rückrunde und damit ein Neuanfang – sicherlich auch personell. „Wir können in der Pause den Kopf freibekommen und dann gestärkt zurückkommen“, hofft Marcel Hartel. Das ist alternativlos.