Hamburg. Frankreichs Fußball-Idol stellte im Museum des Kiezclubs sein Buch gegen Rassismus vor – und war vom Zweitligaclub angetan.

Am Anfang hat Lilian Thuram selbst eine Frage: „Welche Hautfarbe haben Sie?“ Die junge Frau zögert kurz. „Weiß?!“ „Aha! Seit wann sind Sie weiß?“, fragt Thuram. „Seit meiner Geburt“, antwortet sie. Thuram hält ein Blatt Papier hoch: „Und welche Farbe sehen Sie jetzt?“ Wieder: „Weiß.“ „Würden Sie also sagen, Sie haben die gleiche Farbe wie dieses Papier?“ Natürlich nicht. Aber warum glaubt sie dann, weiß zu sein? Warum glauben wir es?

Unser Selbstbild zu hinterfragen, dafür ist der französische Rekordnationalspieler, Welt- und Europameister an diesem Abend ins Museum des FC St. Pauli gekommen. Und um uns den Spiegel vorzuhalten: Nur wenn wir uns vom „Weißen Denken“ verabschieden, wie sein neues Buch heißt, können wir auch den Rassismus überwinden. Das ist seine Botschaft. Wir müssten begreifen, dass Hautfarben nichts weiter seien als körperliche Merkmale. Und dass Kategorien wie weiß und Schwarz – so die Schreibweisen im Buch – letztlich nur konstruiert worden seien, um den Zusammenhalt in der Gesellschaft aufzubrechen und die Herrschaft einiger weniger weißer Männer zu legitimieren.

Fußball: Thuram will das Denken über Hautfarbe verändern

Bis heute profitierten Weiße von den Ergebnissen von Ausbeutung und Unterdrückung, von Kolonialisierung und Sklavenhandel, jahrhundertelang mit rassistischen Theorien legitimiert, sagt Thuram (50): „In unserer Gesellschaft denken viele, dass Rassismus normal ist.“ So sei es auch bei seiner Mutter gewesen, mit der er als Neunjähriger aus dem Überseegebiet Guadeloupe in einen Pariser Vorort zog. Erst da sei er zu einem Schwarzen geworden – davor sei das für ihn gar keine Kategorie gewesen. „Als ich dann als Kind auf dem Fußballplatz rassistisch beleidigt wurde, hat sie mir gesagt: ‚Hör auf, darüber zu reden. Du bist Fußballer. Man kann es sowieso nicht ändern.‘“

Aber genau das will der Sohn, seit er 2008 seine Karriere nach 142 Länderspielen und fast so vielen Titeln beendet hat: unser Denken ändern. Mit der gleichen Wucht und Präzision, mit der er einst als beinharter Verteidiger seine Gegner vom Ball trennte, will er uns von bequemen Denkmustern lösen. Thuram hat eine Stiftung für antirassistische Bildung gegründet und Bücher geschrieben. Die erfolgreiche Karriere hat ihm eine starke Stimme gegeben, die gehört wird.

Thuram freut sich über klare Haltung von St. Pauli

Bei der Lesung am Mittwoch, von der Rosa-Luxemburg-Stiftung veranstaltet, ist das kleine Museum am Millerntor mit 200 Menschen hoffnungslos überfüllt. Für Thuram ist es ein Heimspiel. Draußen am Stadion hängen Transparente wie „Rassismus ist keine Meinung“, auf dem Dach weht die Regenbogenflagge. „Ihr Fans könnt stolz sein auf diesen Club“, sagt Thuram. Ob er sich hätte vorstellen können, für einen Verein wie St. Pauli zu spielen, der ein politisches Anliegen hat, will ein Zuhörer wissen. „Als Kind willst du immer zu den Allerbesten gehören“, antwortet Thuram. Aber seine Karriere bei einem solchen Club ausklingen zu lassen, das hätte er sich gut vorstellen können. „Und ich wäre stolz gewesen, dieses Trikot zu tragen. Leider bin ich jetzt zu alt.“

Lilian Thuram: „Das weiße Denken“. Edition Nautilus, 304 Seiten, 17,99 (E-Book) bis 22 Euro (Buch).
Lilian Thuram: „Das weiße Denken“. Edition Nautilus, 304 Seiten, 17,99 (E-Book) bis 22 Euro (Buch).

Am nächsten Vormittag sitzt Thuram in den Bahrenfelder Verlagsräumen der Edition Nautilus und signiert Exemplare seines Buchs. Natürlich rede er auch gern über Fußball, sagt er, als er das Abendblatt an seinen Tisch bittet. Viele dächten, er wolle nichts vom Fußball wissen, nur weil er nicht Trainer oder Experte oder Manager oder sonst etwas geworden ist, was man nach einer großen Karriere wie seiner eben so wird. „Mir erscheint das, was ich jetzt tue, wichtiger“, sagt Thuram. Aber er schaue sich gern einmal ein Spiel an. Seine Söhne sind wie er Profis geworden, Marcus (24), der ältere, stieg bei Mönchengladbach zu einem der besten Stürmer der Bundesliga auf.

Trotz Initiativen müssen Fußballer heute noch Rassismus erleben

Trotzdem müssen auch sie Rassismus im Fußball erleben, wie ihr Vater damals, wie so viele der Kollegen noch heute – trotz aller Initiativen, Aktionen, trotz kniender Spieler und pädagogischer Projekte. Seinen Söhnen habe Thuram das auf den Weg gegeben: „Vielleicht gibt es Leute, denen deine Hautfarbe nicht passt. Aber du musst wissen, dass nicht du ein Pro­blem hast, sondern sie. Und zwar ein großes.“ Zu verstehen, wie Rassismus entstanden ist und über die Generationen weitergegeben wurde, um das Wirtschaftssystem des Kapitalismus zu erhalten, um Hierarchien und die Verteilung des Wohlstands zu festigen: All das sei wichtig, um nicht selbst Hass zu verspüren.

Und um Dinge zu verstehen, die kaum zu verstehen sind. Der 18-Jährige, der in einem US-Supermarkt kürzlich zehn vorwiegend afroamerikanische Menschen erschoss, sei kein einsamer Wolf gewesen, wie manche glauben machen wollten. „Die weiße Vorherrschaft war dort einst sogar gesetzlich festgeschrieben“, sagt Thuram. „Die weiße Identität hat sich aus dieser Hierarchie entwickelt. Wenn dir das nicht bewusst ist, kannst du den Rassismus nicht überwinden.“

Thuram fordert: Fußballer müssen ihre Stimme erheben

Kann der Fußball dabei eine Vorreiterrolle übernehmen, wie es St. Pauli versucht? Oder ist ein Stadion letztlich nicht mehr als Spiegel der Gesellschaft, in dem auch all die hässlichen Seiten sichtbar werden? Thuram findet, dass kein Sportler, kein Fußballer sich darauf zurückziehen könne, nicht politisch zu sein: „Wenn du sagst, du bist neutral, bedeutet es, dass alles immer so weitergehen kann.“

In vielen Ländern weigerten sich Spieler, vor dem Anpfiff auf die Knie zu gehen, weil es politisch nicht gewollt sei. „Ich bin mir sicher, wenn du die gleichen Leute morgen um eine Geste gegen Gewalt gegen Eisbären bittest, machen sie mit. Aber wenn es um Gewalt gegen Schwarze geht, ist es ihnen egal. Weil es Teil der Kultur ist.“ Man müsse gerade den jungen Profis klarmachen, dass sie ihren Einfluss dafür nutzen könnten, Missstände anzuprangern.

Lilian Thuram durfte 1998 bei der Heim-WM in Frankreich den Siegerpokal in die Höhe stemmen.
Lilian Thuram durfte 1998 bei der Heim-WM in Frankreich den Siegerpokal in die Höhe stemmen. © picture alliance / abaca | Hahn Lionel

Thuram sieht hier die Wurzel des Übels. Die selbst ernannten Fans, die ihn mit Affenlauten verhöhnten, waren der Preis, den er zahlte, um im damals gelobten Fußballland Italien bei AC Parma und Juventus Turin zu spielen. Aber dass es hinterher Mitspieler gab, die ihm achselzuckend die Hand auf die Schulter legten; Clubchefs, die lieber weghörten, weil sie um die Einnahmen fürchteten: Das konnte und wollte er nicht akzeptieren. „Ihnen sage ich: Wenn das mit den Affenlauten weitergeht, ist das eure Schuld. Weil ihr, die ihr denkt, keine Rassisten zu sein, nichts tut.“

Thuram verteilte zum Abschied Geschenke

Denn auch das zeigt Lilian Thuram in seinem Buch auf: Zu jeder Phase gab es Menschen, die den Mut hatten, Verbrechen wie den Kolonialismus und die Sklaverei als solche zu benennen. Die sich vom „weißen Denken“ gelöst und die Perspektive gewechselt haben: weg vom Schiff des Kolumbus hin zu denen, die am Strand standen und nicht „entdeckt“ zu werden brauchten.

Zum Abschied gibt Thuram allen Gästen seiner Lesung eine Weltkarte mit. Sie zeigt Afrika in der Mitte, Europa am Rand. Und alles ist auf den Kopf gestellt. Aber was heißt das überhaupt: auf den Kopf? „Die Erde ist rund wie ein Fußball“, sagt Thuram, „und mir hat noch nie jemand gesagt, ein Fußball sei verkehrt herum.“