Hamburg/Bregenz. Der gebürtige Wedeler Radprofi hatte mentale Probleme, nahm eine lange Auszeit. Beim Giro d’Italia meldete er sich zurück.

Lennard Kämna klingt etwas erschöpft, als er sich am Telefon meldet. „Ich freue mich sehr, mal ein paar Tage Ruhe zu haben und wieder ein paar Nächte im eigenen Bett verbringen zu können“, erzählt der 25 Jahre alte Radprofi. Wenige Stunden zuvor war Kämna vom Giro d’Italia zurückgekehrt, wo der gebürtige Wedeler neben dem Gesamtsieg von Jai Hindley (26/Australien), Teamkollege bei Bora-hansgrohe, auch einen persönlichen Moment der Genugtuung erleben durfte. „Wir hatten den perfekten Giro, mit dem Gesamtsieg und meinem Etappensieg hätte es nicht besser laufen können. Ich hatte gute Beine und mich wirklich super gefühlt. Auch in der zweiten und dritten Woche bin ich konstant gut gefahren“, sagt Kämna.

Sein Triumph bei der vierten Giro-Etappe am Vulkan Ätna auf Sizilien war es, der ihm endgültig das Gefühl gab, zurück zu sein. „Ich habe schon ein paar Wochen vorher gezeigt, dass ich wieder zurück auf meinem normalen Leistungsniveau bin. So ein Sieg auf so einer großen Bühne ist dann aber doch noch mal ganz besonders“, sagt Kämna. Dass er überhaupt an die Leistungsspitze eines der wichtigsten Rennen der Welt – mit der Tour de France und der Vuelta a España zählt der Giro zu den Jahreshöhepunkten im Radsport – zurückkehren würde, war vor rund einem Jahr nicht abzusehen.

Nach der Algarve-Rundfahrt im Mai 2021 nahm sich Kämna eine Auszeit

Nach der Algarve-Rundfahrt im Mai 2021 war er in ein tiefes Loch gefallen. Keine Tour de France, keine Olympischen Spiele, keine Weltmeisterschaft – Kämna nahm sich eine dringend benötigte Auszeit. Der Kopf, nicht die Beine bremsten ihn aus. Anfangs sprachen er und sein Team von Überbelastung im Training, körperlichen Problemen. Später sagte er dem „Weser-Kurier“, er habe Probleme gehabt, sich „Befriedigung abseits des Sports zu holen“. Kämna fühlte sich leer, antriebs- und kraftlos. „Wenn ich ganz trocken wäre, würde ich sagen, ich hatte keine Lust mehr. Aber ich will gar nicht mehr darüber reden“, sagte er.

Sein Team verlängerte seinen auslaufenden Vertrag vorzeitig bis Ende 2022, war Rückhalt in der schwersten Zeit seiner Karriere. Bis zum Saisonende 2021 fuhr er dann kein einziges Straßenrennen mehr, gab im Herbst nur beim Mountainbike-Rennen Cape Epic ein vorsichtiges Comeback. In Südafrika, abseits des lauten Worldtour-Zirkus, fand er langsam zurück zum Spaß am Radfahren. „Die Leute freuen sich, dass ich wieder dabei bin. Ich bin nie schräg angeguckt worden“, sagt Kämna, der seit mehreren Jahren als größtes Radsporttalent Deutschlands gilt.

Im März hatte sich Kämna eine Corona-Infektion eingefangen

Spätestens nach seinem Etappensieg bei der Tour de France im Jahr 2020 lastete enormer Druck auf ihm. Zu viel Druck? Reden möchte Kämna heute nicht mehr über diese Zeit. Viel lieber will er, das macht er auch im Gespräch mit dem Abendblatt deutlich, über die erfolgreiche Italien-Rundfahrt und den Gesamtsieg Hindleys, an dem er als wichtiger Helfer in der Schlusswoche großen Anteil hatte, sprechen. „Es passiert nicht oft, dass man dabei sein kann, wenn ein Teamkollege so einen großen Erfolg feiert“, sagt Kämna, der mittlerweile in der österreichischen Stadt Bregenz am Bodensee lebt und trainiert.

Auch vor dem diesjährigen Giro gab es viele Fragezeichen um seine Form, nachdem er sich im März eine Corona-Infektion eingefangen hatte. „Ich war im April durch die Infektion nicht auf dem Level, auf dem ich hätte sein können. Da die Vorbereitung so nicht optimal war, konnte ich mental entspannt sein und musste mir nicht zu viel vornehmen. Ich habe dann einfach den Plan durchgezogen“, sagt Kämna, der mit seinen Auftritten in den vergangenen Wochen sämtliche Zweifler zum Schweigen brachte.

Im Juli will Kämna bei der Deutschen Meisterschaft im Sauerland vorne mitfahren

Ob er bei den Grand Tours in Frankreich (1. bis 24. Juli) und Spanien (19. August bis 11. September) an den Start geht, sei noch unklar. „Noch ist alles offen, wir haben nichts entschieden. Auf die Tour de France habe ich aber natürlich immer auch ein Auge“, sagt er. Den nächsten Saisonhöhepunkt hat Kämna hingegen bereits fest im Blick. Vom 24. bis 26. Juli will er bei der Deutschen Meisterschaft im Sauerland vorne mitfahren. „Wenn ich fit bin, will ich auf Sieg fahren. Das ist keine Frage für mich“, sagt der 25-Jährige, ehe er sich in den Kurzurlaub am heimischen Bodensee verabschiedet.

Die wenigen Tage Pause seien Kämna gegönnt, längere Auszeiten sollen jedoch der Vergangenheit angehören.