Hamburg. Als Kind kickte die ehemalige HSV-Spielerin heimlich mit ihren Brüdern, heute bringt sie geflüchteten Mädchen das Fußballspielen nahe.

Zweieinhalb Jahre, von 2007 bis 2009, hat Tugba Tekkal für den HSV in der Fußball-Bundesliga gespielt. Aber Bildmaterial aus der Zeit? Fehlanzeige, null Treffer heißt es in der Suchmaske der Abendblatt-Fotodatenbank. „Tja, am Ende des Tages ist es eben doch nur Frauenfußball“, sagt sie seufzend am Telefon. Dass Tekkal sich damit nicht abfinden wird, lässt sich während des Gesprächs kaum überhören.

Hamburger Abendblatt: Am Dienstag tragen die Frauen des FC Bayern München zum ersten Mal in ihrer Geschichte ein Fußballspiel in der Allianz Arena aus – dort, wo sonst nur die Männer spielen. Was haben Sie gedacht, als Sie davon erfuhren?

Tugba Tekkal: Mir ist ein einziges Wort durch den Kopf geschossen: endlich. Es ist ein so immens wichtiges Zeichen und richtig, den Frauen des FC Bayern diese Bühne zu geben. Das ist hochverdient.

Als am Weltfrauentag am 8. März viele Frauen aus dem Sportbusiness mit dem Hashtag #wirsindda in den sozialen Medien auf sich aufmerksam gemacht haben, waren Sie auch dabei. Was entgegnen Sie Männern, die sagen: So langsam reicht’s jetzt aber?

Tekkal: Sinn und Zweck solcher Initiativen ist ja nicht, den Männern damit eins reinzuwürgen. Ich bin bei solchen Aktionen nie gegen etwas, sondern immer für etwas. Für mich war einfach klar, dass ich da in der Verantwortung stehe, genau aus
diesem Grund habe ich schließlich
SCORING GIRLS* ins Leben gerufen: ein Projekt für Mädchen, die aufgrund ihrer ethnischen oder sozialen Herkunft vermeintlich unsichtbar sind im Fußball.

Das Projekt wird von Háwar.help betreut, einem Menschenrechtsverein, den Sie gemeinsam mit einigen Ihrer Geschwister 2015 gegründet haben. Wie kam es dazu?

Tekkal: Im Sommer 2014 hat im Irak ein Völkermord stattgefunden, begangen von der islamistischen Terrororganisation „Islamischer Staat“ am jesidischen Volk, einer ethnisch-religiösen Minderheit, der auch unsere Familie angehört. Um diesen Völkermord aufzuklären und uns für den Schutz der Menschenrechte überall auf der Welt einzusetzen, haben wir 2015 Háwar.help gegründet. Wir wollen einerseits erreichen, dass die Täter gefasst und für ihre Straftaten rechtmäßig verurteilt werden. Andererseits sind wir fest davon überzeugt, dass es um Versöhnung gehen muss, nicht um Spaltung. Die positive Macht der Begegnung ist uns extrem wichtig. Diskriminierung entsteht aus der Distanz.

Wer die Arbeit von Háwar.help verfolgt, muss schnell feststellen, dass sich dieser Verein regelmäßig mit den Mächtigsten anlegt, der IS ist nur ein Beispiel von vielen. Welchen Platz nimmt der Fußball dabei ein?

Tekkal: Bei der Gründung war für mich tatsächlich die Frage, was ich persönlich zu den Vereinszielen beitragen kann, und mein Handwerk ist nun einmal das Fußballspielen. Also habe ich den Entschluss gefasst und bin 2015 von Unterkunft zu Unterkunft gefahren, habe geflüchtete Mädels eingesammelt und gesagt: Ich möchte mit euch Fußball spielen.

Wie war die Reaktion?

Tekkal: Riesig. Viele hatten noch nie darüber nachgedacht, in einem Verein zu spielen, weil sie dachten, sie können und dürfen das eh nicht. Wir haben ihnen das Gegenteil bewiesen. Es geht natürlich nicht allein ums Kicken, sondern auch um Hilfe bei der Berufsfindung, Hausaufgabenbetreuung, Dialoge mit Vorbildern. Wir vermitteln den Mädchen, dass sie alles schaffen können, wir tragen sie, sind ihre Flügel. Immer wieder vermitteln wir talentierte Spielerinnen an die Vereine, wo sie zu Leistungsträgerinnen werden. Sechs Standorte haben wir inzwischen, drei in Berlin, zwei in Köln und einen im Irak, den haben wir voriges Jahr eröffnet. Der siebte Standort wird übrigens Hamburg sein – voraussichtlich noch in diesem Jahr.

Ihr Handwerk als Fußballerin haben Sie in Ihrer Geburtsstadt Hannover gelernt, aber Ihren Meister in Hamburg gemacht, kann man das so sagen?

Tekkal: Ja, absolut. Der HSV hat mir meinen ersten Profivertrag gegeben und immer an mich geglaubt, das vergisst man einfach nicht. Mit Hamburg wird mich immer eine besondere Zeit meines Lebens verbinden. Ich war eine Viertligaspielerin in Hannover, wurde beobachtet und zum Probetraining eingeladen – dann kam das Vertragsangebot. Allerdings waren meine Eltern strikt dagegen. Fußball habe ich in meiner Kindheit lange heimlich gespielt, erst mit 16 Jahren durfte ich in einen Verein.

Und das hat geklappt – also so lange heimlich zu kicken?

Tekkal: Ja, das ging, ich bin ja mit sechs Schwestern und vier Brüdern aufgewachsen. Die dreckigen Klamotten konnte ich zum Beispiel einfach in die Wäsche stopfen und meinen Brüdern unterjubeln. Aber als dann das Angebot vom HSV kam und ich sagte, ich möchte das unbedingt, war das für meine Eltern erst mal wie ein Schlag ins Gesicht. Das bedeutete ja, dass ich allein in eine fremde Stadt ziehen würde, mit 21 Jahren, unverheiratet – damals unvorstellbar für meine Eltern.

Und dann?

Tekkal: Hat es mich ein halbes Jahr hartnäckiger Diskussionen gekostet. Meine beiden älteren Brüder waren aber ebenso standhaft wie ich, und wenn man auf Dauer so viele Kinder gegen sich hat, wird es für Eltern irgendwann anstrengend. (lacht)

Und der HSV hat tatsächlich ein halbes Jahr auf Sie gewartet?

Tekkal: Ja. Obwohl ich nicht richtig die Wahrheit gesagt habe, das habe ich mich nicht getraut. Aber ich glaube, die wussten, was Sache ist und haben mich trotzdem mit offenen Armen empfangen. Weil die Saison aber schon begonnen hatte, habe ich erst mal in der zweiten Mannschaft gespielt. Zum Start der neuen Saison stand ich dann endlich im Bundesliga-Kader.

Waren Sie stolz?

Tekkal: Ja, unheimlich. Aber der stolzeste Moment meines bisherigen Lebens war, als bei meinem ersten Erstligaspiel meine Eltern auf der Tribüne saßen. Da war für mich klar, dass sie meine Leidenschaft akzeptiert hatten und zu mir standen. Denn natürlich habe ich immer meine Familie geliebt, aber das Fußballspielen ja auch. In diesem Moment kamen endlich beide Welten zusammen. Allein schon deshalb werde ich Hamburg und meine Zeit beim HSV nie vergessen.

Haben Sie verstanden, warum Ihre Eltern sich erst dagegen sperrten?

Tekkal: Aus heutiger Sicht schon. Aber dann war für sie irgendwann die Frage: Sollen wir an traditionellen Rollenbildern festhalten oder wollen wir unsere Kinder verlieren? Denn das wäre womöglich passiert. Was ich aber ganz toll finde – dass sie diesen Weg am Ende doch mitgegangen sind. Mein Vater bezeichnet sich heute übrigens voller Stolz als Feminist. Meine Töchter sind wie meine Söhne, sagt er.

Ihre Eltern sind in den 70er-Jahren nach Deutschland geflüchtet. Konnten die beiden darüber sprechen oder haben sie das Thema Flucht eher von Ihnen ferngehalten?

Tekkal: Nein, das war sogar ziemlich oft Thema. Mein Vater ist Menschenrechtler durch und durch, es war ihm immer wichtig, dass wir das zu schätzen wissen: Dass in unserer neuen Heimat Demokratie herrscht, dass Recht gesprochen wird. Meine große Schwester Düzen hat er mit vier Jahren in den niedersächsischen Landtag mitgenommen, um ihr zu zeigen: Hier werden Gesetze gemacht. Gleichzeitig hat er mit meiner Mutter elf Kinder großgezogen. Damals habe ich mich oft dafür geschämt. Wo wir herkamen, dass wir so viele waren und immer wieder als asozial beschimpft wurden. Heute habe ich verstanden, was meine Eltern Großartiges geleistet haben. Sie sind die Quelle unserer Kraft, bis heute sind sie unsere wichtigsten Berater.

Europa steht vor einer Zeitenwende, Millionen geflüchteter Ukrainer suchen derzeit bei uns Schutz. Was kann der Fußball in diesen Zeiten leisten?

Tekkal: Man wollte uns lange glauben machen, dass Sport und Politik nichts miteinander zu tun haben. Spätestens seit der eindeutigen Reaktion der Sportwelt auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine weiß man, dass das nicht stimmt. Aus meiner Arbeit bei SCORING GIRLS* weiß ich, dass der Fußball es vermag, eine Welt zu schaffen, in der alles in Ordnung ist, in der Mädchen einen Schutzraum haben und durchatmen können. Auf dem Fußballplatz macht das Trauma, das ja jede Flucht in der einen oder anderen Form auslöst, auch mal Pause. Da geht es darum, eine gemeinsame Sprache zu sprechen, und das ist die Sprache des Fußballs. Nach wie vor gibt es für mich keine schönere auf der Welt.