Hamburg. Der neue Bundestrainer der deutschen Hockeyherren spricht im Abendblatt über seinen Stil und Vergleiche mit Nagelsmann und Klopp.

In Potchefstroom in Südafrika, bei mehr als 30 Grad und auf 1400 Metern Höhe, beginnt in dieser Woche die Mission des André Henning. Der erste Lehrgang des 38-Jährigen, der die deutschen Hockeyherren als neuer Bundestrainer 2024 in Paris zu Olympiagold führen soll, vereint Training und Wettkampf, in Turnierform stehen die ersten vier Spiele der Nationenserie Hockey Pro League gegen Frankreich (16. und 19. Februar) und Südafrika (17. und 21. Fe­bruar, alle 19 Uhr) an. In seinem ersten Zeitungsinterview in der neuen Position spricht der im Bergischen Land aufgewachsene Coach, der seine aktive Karriere wegen einer Knieblessur mit Anfang 20 beenden musste und 2014/15 beim Club an der Alster in Hamburg arbeitete, über seinen Führungsstil und Erfahrungen, die sein Leben prägten.

Herr Henning, vor zwei Wochen standen Sie noch mit Rot-Weiß Köln im Finale um die deutsche Hallenmeisterschaft, nun sollen Sie die deutschen Herren wieder in die Weltspitze führen. Nach der ersten Bestandsaufnahme: Wo steht das deutsche Herrenhockey?

André Henning: Wir sind ganz nah dran an der Weltspitze. Die Entwicklung der Mannschaft unter meinem Vorgänger Kais al Saadi war sehr gut, das Team hat tolle Fortschritte gemacht, und Kais hat mir den Einstieg mit einer exzellenten Übergabe sehr erleichtert. Aber im Einzelnen kann ich noch nicht alles beurteilen. Diesen ersten Lehrgang in Südafrika werde ich nutzen, um alle kennenzulernen, ins Team reinzuhören und zu verstehen, wie das System funktioniert. Mein Ansatz ist zu schauen, was die Mannschaft braucht.

Ihr Name fiel seit Jahren, wenn es um die Neubesetzung von Bundestrainerstellen ging. Warum hat es diesmal gepasst?

Weil das Timing das richtige war. Bei der ersten Anfrage war ich gerade drei Monate Cheftrainer in Köln gewesen, da wollte ich nicht sofort wieder gehen. Nun, nach sechseinhalb Jahren, war der Zeitpunkt perfekt. Außerdem waren die Gespräche mit allen Beteiligten unglaublich angenehm, und mich reizt die Herausforderung, mit der Mannschaft erstmals seit 2013 wieder große internationale Titel zu holen, ungemein.

Hinter vorgehaltener Hand hieß es, Sie seien dem Verband zu aufbrausend und forsch gewesen. Was haben Sie verändert?

Emotionen habe ich weiterhin, ich glaube auch, dass die im Sport förderlich sind, solange man sie beherrscht. Ich habe auch nie wahrgenommen, dass der DHB deshalb irgendwelche Ressentiments hatte. Klar ist aber auch, dass ich mich über die Jahre sehr verändert habe. Mit 23, als ich in Mülheim in der Bundesliga anfing, war ich ein ganz anderer Trainer und Mensch als in meiner Zeit beim Club an der Alster in Hamburg oder als ich es heute bin. Ich habe vieles lernen müssen und bin eine andere Persönlichkeit geworden.

Sie gelten als Trainer, der seinen Mannschaften viel Freiraum lässt. Wie würden Sie Ihren Stil beschreiben?

Ich möchte keinen André-Henning-Style implementieren, denn die Spieler prägen den Stil der Nationalmannschaft. Aber natürlich ist bei mir auch nicht alles basisdemokratisch. Es gibt Bereiche, wo die Spieler komplett frei entscheiden können, aber auch welche wie zum Beispiel bei Nominierungen, wo nur der Trainerstab das Sagen hat. Mein Credo ist, dass über offene Feedback-Prozesse das Prägen von Mannschaften am besten möglich ist. Meine Aufgabe als Cheftrainer sehe ich darin, Spieler als Persönlichkeiten zu prägen, weiterzuentwickeln und dadurch besser zu machen.

Sie werden angesichts Ihres Alters und Ihrer Erfolge, aber auch wegen Ihrer emotionalen Art mit Fußballtrainer Julian Nagelsmann verglichen. Stört oder ehrt Sie das?

Weder noch. Ich kenne Julian Nagelsmann nicht persönlich, weiß nicht, wie er arbeitet. Früher wurde ich wegen meiner impulsiven Art eher mit Jürgen Klopp verglichen. Mit solch erfolgreichen Trainern in Verbindung gebracht zu werden ist schön, aber geprägt haben mich viele der Trainer, mit denen ich im Hockey gearbeitet habe. Ich will aber niemandem nacheifern, sondern meinen eigenen Weg gehen.

Dieser Weg hatte Sie in den vergangenen Jahren zu einer Doppelfunktion geführt, neben den Kölner Herren waren Sie Nationalcoach Kanadas. Haben Sie Sorge, dass Ihnen mit nur einem Amt langweilig wird?

Nach den ersten Wochen zu urteilen, ist diese Sorge vollkommen unbegründet. Wir haben sehr viele Lehrgangstage und Spiele mit dem Olympiakader, aber ich habe mit dem Verband auch besprochen, dass ich ein Scharnier zwischen der Herrenmannschaft und den U-Teams sein möchte. Das bedeutet, dass ich auch mal mit der U 18 auf einen Lehrgang fahren werde, wenn die Zeit es erlaubt. Mein Drang nach Veränderung zwingt mich dazu, immer Neues auszuprobieren.

Wie hat Ihr Engagement in Kanada Ihren Blick aufs Hockey verändert?

Es war sehr spannend für mich, die Sportkultur in Nordamerika zu erleben. Selbst in einer absoluten Randsportart, die Feldhockey in Kanada ist, war die Begeisterung zu spüren, die die Menschen dort für Leistungssport empfinden. Die Hingabe, mit der die Jungs trainiert haben, war beeindruckend. Die haben fast alle schon gearbeitet, aber es war selbstverständlich, um 6.30 Uhr bei zwei Grad und Schneeregen zum Training auf dem Platz zu stehen. Auf der anderen Seite habe ich aber auch gesehen, dass wir im DHB extrem viel richtig und gut machen.

Wenn Sie 2024 in Paris Gold mit Deutschland holen, was soll danach noch kommen? Haben Sie einen Karriereplan?

Hatte ich nie. Es war ja nicht mal mein Plan, Hockeytrainer zu werden. Ich habe Jura studiert und wollte eigentlich Rechtsanwalt werden. Dann hat Mülheim gefragt, ob ich ein Jahr aushelfen könnte. Daraus wurden sieben, nun bin ich Bundestrainer und plane nicht weiter als bis Olympia 2024.

Bis dahin stehen mit der WM im Dezember in Indien und der EM 2023 in Mönchengladbach weitere Höhepunkte an. Sind das Zwischenschritte auf dem Weg zu Olympia, oder wie gehen Sie das an?

Mein Plan ist, alles voll auszukosten, was kommt. Natürlich ist Olympia das mit Abstand wichtigste Event im Hockey, daran hängt die komplette Förderung. Aber jedes einzelne Spiel ist wichtig, denn wir werden in Paris nur erfolgreich sein, wenn wir auf dem Weg dorthin möglichst viele Erfolgserlebnisse gesammelt haben. Eine WM im hockeyverrückten Indien ist ein Traum, eine EM im eigenen Land ein Privileg. Jedes Turnier steht für sich und genießt höchste Priorität. Jeder Sieg ist wichtig und wird uns weiterbringen, deshalb wollen wir in Südafrika mit dem Gewinnen anfangen.

Dem Nationalteam fehlen prägende Persönlichkeiten im Vergleich zu den Olympiasieger-Teams, in denen es immer eine starke Achse aus Führungsspielern gab. Wie können Sie das verändern?

Sie haben recht, so eine Achse brauchen Teams, um es nach ganz oben zu schaffen, und das ist eine Frage der Persönlichkeitsentwicklung. Wenn ich die Kaderlisten der Halbfinalisten von Olympia in Tokio nebeneinanderlege, dann gibt es von der individuellen Klasse her kein Team der Welt, das besser ist als Deutschland. Trotzdem sind wir Vierter geworden. Und dass auf den Shortlists des Weltverbands für die Wahl zum Welthockeyspieler des Jahres seit Jahren kein Deutscher mehr draufsteht, ist auch bezeichnend. Da möchte ich ansetzen und helfen, dass die Jungs ihre hohe individuelle Klasse auch im Team und unter Druck komplett abrufen.

Mit den Hamburgern Tobias Hauke und Florian Fuchs sowie dem Berliner Martin Häner haben drei Führungsspieler ihre Karriere nach Tokio beendet. Wen sehen Sie denn im aktuellen Team in der Lage, die Führungsachse zu bilden?

Namen kann ich erst nennen, wenn ich die Spieler alle kenne. Ich beobachte das Team zwar schon lange von außen, aber im Inner Circle bin ich noch nicht. Aber ich bin überzeugt davon, dass wir eine Reihe an Spielern haben, die Führungsaufgaben übernehmen werden. Die Tür steht jetzt für alle offen.

Eine Sache, die bei Olympia den Unterschied zwischen Deutschland und der Weltspitze machte, war die fehlende Effizienz im Schusskreis. Wie kriegen Sie das in Griff?

Die Effizienzquote ist deutlich zu niedrig. Der erste Kontakt, die Schnelligkeit im Abschluss, da brauchen wir eine andere Mentalität. Früher hieß es über deutsche Hockeyteams immer, sie seien erst geschlagen, wenn sie im Bus nach Hause säßen. Das war zuletzt zu oft andersherum der Fall, und daran müssen wir dringend arbeiten.

Ein weiterer Punkt ist die Strafecke. Auch da war Deutschland bei Olympia nur viertbeste Nation. Warum?

Grundsätzlich muss man sagen, dass die Eckenabwehr im Hockey in den vergangenen Jahren immer besser geworden ist. Früher galt eine Trefferquote von 50 Prozent als gut, heute ist schon ein Drittel ein guter Wert. Da liegen wir nicht weit von entfernt. Nicht ausreichend war unsere Eckenabwehr, da müssen wir dringend ansetzen.

Die Topnationen haben Spezialisten, die schon im Jugendbereich ausgebildet werden, Argentinien gewann kürzlich die U-21-WM im Finale gegen Deutschland nur dank ihres Eckenschützen. In Deutschland fehlt ein solcher Experte seit Jahren. Warum?

Ich finde schon, dass unsere Eckenschützen großes Potenzial haben. Wir müssen uns im Verband fragen, welche Strategie wir umsetzen wollen, es auch auszuschöpfen. Bislang fehlen uns Spezialtrainer, die zum Beispiel nur fürs Eckentraining eingesetzt werden. Andere Nationen haben die. Zusätzlich muss man auch schauen, welche spezielle Betreuung Eckenschützen brauchen, wenn es um Athletiktraining oder physiotherapeutische Besonderheiten geht. Ich habe bei meinem Amtsantritt gesagt, dass wir smarter sein müssen als andere, die mehr Geld haben. Damit meinte ich, dass ich Experten und Spezialisten viel Raum geben will. Außerdem werden wir künstliche Intelligenz wie 3-D-Video-Techniken nutzen, um Abläufe noch besser zu überprüfen und analysieren zu können.

Sie könnten aber auch Gonzalo Peillat einbürgern, den argentinischen Eckenspezialisten, der für den Mannheimer HC in der Bundesliga spielt und gern Deutscher werden möchte. Nach Olympia gab es diese Gerüchte. Was ist dran?

Aus Trainersicht sage ich, dass ich die besten Spieler des Landes dabeihaben möchte und schauen müsste, wie wir ihn einbinden könnten. Aber noch hat er keinen deutschen Pass, also warten wir ab.