Hamburg. Zwei Hamburger Boote mit gehörlosen und blinden Seglern an Bord sind erstmals bei einer Regatta der Kieler Woche dabei.

Johannes Löschke sucht mit seinem Fuß nach einer erhabenen Kante auf dem Deck der „Eberhard“. Er trägt orangefarbene Schuhe, die so eng anliegen, dass er den Untergrund durch die dünnen Sohlen spüren kann. Seine Finger tasten gleichzeitig nach dem vertrauten Mast und den Schoten auf dem Segelboot, das im Norddeutschen Regatta Verein (NRV) an der Außenalster anliegt. Löschke ist blind. Er orientiert sich mit seinen Händen, Füßen und seinem Gehörsinn. Der 34-Jährige kennt jeden Zentimeter auf der J70. Auf dem Boot bewegt er sich schnell und sicher – ruft jeden seiner Schritte seinem Crewmitglied David Koch rüber, der ebenfalls stark seheingeschränkt ist.

Die beiden Segler vom FC St. Pauli sind ein eingespieltes Team mit großem Ziel: In wenigen Tagen nehmen sie und ihre Crew in der ambitionierten Regattaklasse J70 an der Kieler Woche teil – dem größten Segelevent der Welt. Es ist das erste Mal, dass ein inklusives Boot an der Regatta mitsegelt.

Inklusion bei der Regatta: Fünf Segler im Boot

„Können die das?“, „Wie wollen die denn blind segeln?“: Viele sehende Segler reagierten ungläubig, berichten sie. Wer Johannes „Jo“ Löschke und David Koch in ihrem sportlichen Wohnzimmer begleitet, verliert schnell jegliche Zweifel. Sie selbst sind sich sicher, dass sie mithalten können – spüren keine Angst, sondern nur eine riesige Vorfreude. „Ich bin ein Typ Mensch, der sich über Herausforderungen freut. Ich will das jetzt endlich rocken“, sagt Koch unaufgeregt. Der 32-Jährige spricht mit einer sehr sanften Stimme. Er strahlt an Bord eine Ruhe aus, der man sich kaum entziehen kann – und die sich auch über die Crew legt. Selbst in brenzligen Situationen breche keine Hektik aus, sagt er.

Bei der Kieler Woche, die an diesem Sonnabend startet, werden sie zu fünft im Boot sitzen. Gemeinsam mit drei Sehenden, fest gesetzt sind Mieke Klein (35/Taktikerin) und Marvin Hamm (29/Steuermann), segeln sie vom 9. bis 12. September auf der Regattabahn gegen 41 weitere Teams auf der Kieler Außenförde. „Das ist einfach krass“, sagt Sven Jürgensen, der das Pilotprojekt „Gelebte Inklusion auf der Regattabahn“ des NRV, der Segelabteilung des FC St. Pauli und des Hamburger Gehörlosen Sport Vereins initiierte. Der 58-Jährige ist mitverantwortlich für die inklusiven Segelprojekte im NRV und bekommt noch immer Gänsehaut, wenn er erzählt, wie die Crew zueinanderfand.

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David Koch hatte vor einem Jahr zum ersten Mal die Pinne in der Hand

Denn David Koch hatte erst vor etwa einem Jahr zum ersten Mal die Pinne fest in der Hand. „Klar war’s ein bisschen wackelig, aber ich hatte keine Angst, von Bord zu fallen“, erinnert sich der 32-Jährige. „Jo hatte mir das Boot gut beschrieben.“ Die Schoten habe er sich mit den Händen, seinen „erweiterten Augen“, ertastet und gegriffen. „Dann wurde mir die Pinne in die Hand gelegt, und ich habe einfach darauf reagiert.“

Das war im September 2020 auf einem Workshop mit J70-Booten. Koch reicht das Schnuppern nicht. Noch am selben Abend, als er mit Jürgensen, Löschke und Anja Düvel, der Inklusionstrainerin des FC St. Pauli, am Steg sitzt und mit einem Bier auf den Tag anstößt, fragt er, ob sie nicht eine richtige Regatta segeln könnten, „so was wie die Kieler Woche?“. Keine Stunde später steht der Plan. Sven Jürgensen, noch beschwingt vom erfolgreichen Workshop, leitet sofort alles in die Wege. Auch Frauke Rawert, stellvertretende Vorsitzende des Vorstands bei der Reinhard Frank Stiftung, ist sofort mit an Bord, um das Projekt finanziell zu unterstützen. Zudem fördern die Stadt Hamburg und die Klassenvereinigung der J70s die Teilnahme.

Die heute zehnköpfige Crew hat sich schnell über den NRV und die Segelabteilung des FC St. Pauli gefunden. Nicht alle sind in Kiel dabei, aber alle gehören gemeinsam zu diesem außergewöhnlichen Team. Löschkes Frau Nadine (42) kocht für das Team, das bei der Regatta mit Zelt und Wohnmobil campen möchte. Christiane Willim (57), Jessika Stiefken (27) und Leon Tyssen (25) halten sich bereit, um als fünftes Mitglied an Bord zu gehen. Aber auch Anja Düvel (53) und Alex Tyssen (28) sind beim Bat Teams dabei und wollen die Crew von Land aus unterstützen.

Am meisten feilen die Segler an ihrer Kommunikation

15-mal haben sie seit März auf einer J70 trainiert, etwa zehnmal im Individualtraining teils mit professioneller Unterstützung der Bundesliga-Seglerin Silke Basedow. Zunächst durften sie pandemiebedingt nur zu zweit, später zu viert aufs Boot – und zuletzt segelten sie zu fünft bei der Generalprobe auf der Ostsee. Sie sind mit- und aneinander gewachsen, sagen sie, treffen sich auch mal privat. „Jeder Törn mit unserer Crew wird nur noch gefeiert. Dadurch, dass es so viel Spaß macht, gehen unsere Leistungskurven durch die Decke“, beschreibt David Koch ihre Freundschaft.

Am meisten feilten sie an ihrer Kommunikation, strichen jedes unnötige Wort an Bord. „Auch wenn unsere Kommandos rabiat klingen, nimmt das niemand persönlich oder böse“, sagt Koch. „Hart, aber liebevoll“, ergänzt Löschke. Für ihn und Koch ist es wichtig, dass sie nicht zu viel hören und filtern müssen. „Wir haben ja schon das Segel, den Wind und die gegnerischen Boote in den Ohren“, erklärt der ausgebildete Physiotherapeut. Das Bat Sailing Team möchte seine vermeintlichen Schwächen in Stärken umwandeln. „Blinde haben auf dem Wasser eine ganz andere Wahrnehmung. Sie spüren zum Beispiel den Kurs, den Wellengang und den Sonnenstand“, sagt Nadine Löschke. „Das war für uns Sehende am Anfang ein bisschen ‚spooky‘. Sie konnten sagen, dass wir eine leichte Wende fahren, das hatten wir selbst gar nicht bemerkt.“

Halles Team kommuniziert nur in Gebärdensprache

Bei der Regatta begleitet die Crew ein weiteres inklusives Boot. Vier gehörlose beziehungsweise schwerhörige Segler treten ebenfalls im Rahmen des Projekts in der Bootsklasse an. Angeführt von Skipper Markus Halle (52), Spartenleiter für Segelsport im Hamburger Gehörlosen SV, wagen sich Sevgül Sanlitürk (45), Jürgen Keuchel (66), Karen Maren Suthmann (38) und Jan Lichtenberger (50) auf die J70.

„Wir wollen zeigen, dass wir es können und dass Behinderung kein Ausschlusskriterium sein sollte. Ich danke meiner Crew, dass sie den Mut hat“, sagt Halle. Sein Team kommuniziert ausschließlich über Gebärdensprache. Bei dem Segelevent, das der NRV mit ausrichtet, mussten daher Dolmetscher für den Check-in, die Siegerehrung, den täglichen Wetterbericht und Protestverhandlungen eingestellt werden. „Barrierefrei bedeutet eben nicht nur Rampen bauen“, sagt Nadine Löschke, die selbst im Rollstuhl sitzt.

Organisationsleiter der Kieler Woche: Ein kleiner Schritt in die richtige Richtung

Dirk Ramhorst, Organisationsleiter der Kieler Woche, freut sich darauf, die Teams in Kiel zu begrüßen: „Gelebte Inklusion hat bei der Kieler Woche seit vielen Jahren eine hohe Bedeutung, war aber bisher im wesentlichen beschränkt auf die Paralympischen Bootsklassen und damit auf Menschen mit körperlichen Einschränkungen“, sagt er. „Das ist sicherlich erst ein kleiner Schritt, aber absolut in die richtige Richtung gehend und vielleicht der Ansporn für viele weitere Menschen mit diesen Einschränkungen, den Segelsport als Inklusionssportart zu entdecken.“

Ihre Freude am Segeln vereint die Crews, ihre Fans und Förderer. Dabei sein ist trotzdem nicht alles. Das selbst gesteckte Ziel der beiden Teams ist es, den erfolgreichen Hamburger Segler Claas Lehmann zu schlagen. Der NRV würde diesen Triumph mit 5000 Euro belohnen. Skipper Markus Halle ist zuversichtlich: „Vielleicht haben wir auch einen Wettbewerbsvorteil. Alle Segler werden sich fragen, warum wir so lebendig kommunizieren – das kostet Zeit. Unsere Boote können dann einfach vorbeiziehen.“