Hamburg. Der Unparteiische hat den Aufstieg in die Top 27 seiner Zunft geschafft. Und nun? Wartet womöglich die Europameisterschaft.

Die Europameisterschaft werde ich mir auf jeden Fall anschauen“, sagt Tobias Stieler – und lacht. Das ist mal eine diplomatische Antwort, macht man nichts falsch mit. Rumtönen, gar Ansprüche anmelden, das ist seine Sache nicht. Wäre auch wahrscheinlich nicht förderlich für die Karriere. Immer schön piano. „Ich versuche, gute Spiele abzuliefern, dann wird man sehen, was passiert.“ Und wenn das gelingt, wenn alle Umstände gut zusammenkommen, dann könnte es tatsächlich passieren, dass der Hamburger Schiedsrichter schon bei der EM in diesem Sommer aktiv auf dem Platz dabei ist – und die Partien aus ganz anderer Perspektive „anschaut“.

Mit Beginn dieses Jahres ist der 39-Jährige in den Kreis der „Elite-Schiedsrichter“ der europäischen Fußball-Union Uefa berufen worden. Nur 27 Referees zählen zu dieser Gruppe, der die Leitung der „großen“ Spiele vorbehalten ist – von der Champions League bis zu den Nationalmannschaften. Felix Brych, Deniz Aytekin und Felix Zwayer sind die drei anderen Deutschen unter diesen Top-Leuten. „Ich bin Ende 2020 für richtig gute Spiele angesetzt worden“, erinnert sich Stieler im Gespräch mit dem Abendblatt, „da habe ich schon gedacht: Oh – das ist ja eine schöne Herausforderung.“

Seit 2012 pfeift Stieler in der Bundesliga

Augenscheinlich wollten die Verantwortlichen bei der Uefa mal schauen, was er denn so draufhat, der Hamburger. So pfiff er in der Champions League Liverpool gegen Amsterdam und Barcelona gegen Juventus, leitete England gegen Belgien sowie Portugal gegen Frankreich in der Nations League. Es geht nicht besser. „Die Bundesliga findet an jedem Wochenende statt, solche Spiele aber sind etwas ganz Besonderes“, sagt Stieler.

Dabei gibt es Unterstützung von der Uefa. Die beschäftigt Leute, die den Schiedsrichtern vor der Partie genaue Dossiers über die beteiligten Mannschaft zur Verfügung stellen. Was machen die Teams bei Standardsituationen, welche Besonderheiten haben sie, welche Spieler sind womit schon mal aufgefallen. Dass Neymar immer hinfällt zum Beispiel? „Das würde ich nie sagen.“ Natürlich nicht.

Seit 2012 pfeift der gebürtige Südhesse aus dem Landkreis Offenbach in der Bundesliga, schon zwei Jahre später gehörte er zum Kreis der Fifa-Schiedsrichter. Stieler ist laufstark, kommunikativ, physisch präsent, scheut auch vor unpopulären Entscheidungen nicht zurück und gilt als sehr konsequent.

Ausgebildeter Jurist

2012 war auch das Jahr, in dem er nach Hamburg umgezogen ist - und sich für die Schiedsrichterei als Beruf entschied. Ein erfahrener Fifa-Schiri erhält vom DFB immerhin 80.000 Euro Fixgehalt im Jahr, zuzüglich Einsatzprämien. „Im November und Dezember war ich im Prinzip zwei Mal in der Woche im Einsatz, und das bei den derzeit komplizierteren Anreisen“, erzählt er. „Lauftraining, Arbeiten im Gym und Spielvor- und Nachbereitung kommen auch noch dazu.“

Zeit für einen „richtigen“ Job bleibt da kaum. Der ausgebildete Jurist arbeitete in München und dann zunächst auch noch in Hamburg in einer Wirtschaftskanzlei im Fachbereich Arbeitsrecht, das geht nun nicht mehr. Zumal er 2014 auch noch ein Psychologiestudium angefangen hat, das er in diesem Sommer mit einem Master in Sportpsychologie beendet. „Das war für mich die beste Entscheidung, ein Gamechanger – Psychologie hilft einem im Umgang mit sich selbst und mit den Spielern“, sagt Stieler. „Es hilft mir auf und neben dem Platz.“

Stieler dürfte theoretisch das Stadtderby leiten

Denn natürlich ist da immer Konfliktpotenzial. Verlierer sind unzufrieden, Entscheidungen sind strittig, und manch einer beschwert sich anschließend – oft aus einer Emotion heraus – in den Medien über die Leistungen der Schiris. Kritik ist dabei für den Hamburger Spielleiter nichts Schlechtes. Gerade, wenn sie berechtigt ist. „Es wäre schön, wenn man die Sachen untereinander gleich besprechen könnte, dann ist das kein Thema.“ Aber nichts sagen im direkten Austausch und dann in die TV-Kameras mosern, das findet Stieler nicht so super. Weiß aber auch nach acht Jahren in der deutschen Eliteliga, mit wem er es zu tun hat: „Ich bin vorbereitet, aber nicht vorbelastet.“

Doch auch, wenn einer vermeintlich alles erlebt hat in seinem Schiedsrichterleben, gibt es immer wieder Neues. Ganz extrem natürlich im vorigen Jahr: Geisterspiele. Leere Stadien, keine Fans. Niemand da, der einen auspfeift, beleidigt – oder im Idealfall gar nicht bemerkt. „Das war am Anfang sehr ungewohnt. Man hört plötzlich auf dem Platz alles. Jede Anweisung, die sich Spieler und Trainer untereinander geben“, erzählt Tobias Stieler, „das Stimmgewirr hat mich im ersten Moment irritiert.“ Inzwischen haben sich alle daran gewöhnt, und die Ungestörtheit in der wegen der Abstandsregeln derzeit wirklich einsamen Schiedsrichterkabine vor und nach den Spielen ist auch nicht so schlecht. Dennoch: „Ohne die Fans fehlt einfach etwas Großes.“

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Dass es noch größer werden könnte im Sommer, bei der EM zum Beispiel, diesen Gedanken erlaubt sich Stieler nicht: „Im Fußball kann immer ganz viel Unvorhersehbares passieren.“ So ist das Pokalfinale 2019 zwischen Bayern München und RB Leipzig bislang sein Karrierehöhepunkt: „Das war so bedeutend. Das größte Spiel, und es wird wohl tatsächlich einmalig bleiben.“

Es gibt eigentlich nur noch eine Steigerung: Weil Stieler weiterhin für seinen Verein SG Rosenhöhe Offenbach im hessischen Landesverband pfeift, besteht für ihn die Möglichkeit zu einem ganz besonderen Spiel: „Ja, ich dürfte theoretisch das Hamburger Stadtderby zwischen dem HSV und St. Pauli leiten.“