Hamburg. Der Athlet vom LT Haspa-Marathon will sich in Valencia für Tokio qualifizieren. Ein Trainerwechsel hat vieles verändert.

Philipp Pflieger verspürt keinen Druck, und das ist kaum zu glauben, wenn man weiß, was an diesem Sonntag auf dem Spiel steht für ihn. Im spanischen Valencia wird der 33-Jährige vom Laufteam Haspa-Marathon Hamburg um 9.30 Uhr mit einem klaren Ziel an der Startlinie stehen. Er will die Marathon-Norm für die Olympischen Sommerspiele 2021 in Tokio knacken. 2:11:30 Stunden sind das Zeitlimit, um in Japans Hauptstadt dabei sein zu dürfen. Schneller als 2:12:50 ist der gebürtige Sindelfinger die 42,195 Kilometer nie gerannt.

Gelingt ihm das auch in Valencia nicht, gibt es im Frühjahr 2021 mit Glück noch eine Chance, um sich zum zweiten Mal nach 2016 in Rio de Janeiro für das größte Sportereignis der Welt zu qualifizieren, und das war es dann. Mehr Druck geht eigentlich nicht. Doch trotzdem sagt Pflieger: „Ich freue mich einfach nur unheimlich auf das Rennen, weil ich herausfinden möchte, was für mich möglich ist. Es fühlt sich gerade wieder an wie mit 16, als alles neu war.“

Wechsel zu Renato Canova

Der Grund für diese Frühlingsgefühle im Winter ist eine Umstellung, die der in Regensburg lebende Topathlet Anfang des Jahres gewagt hat. Nach zwölf Jahren unter der Obhut seines Cheftrainers Kurt Ring hatte Pflieger sich im Trainingslager in Kenia für einen Wechsel zu Renato Canova entschieden. Der 75 Jahre alte Italiener ist eine Ikone unter den Laufcoaches. „Der Mann hat Sportler trainiert, die den Marathon in 2:04 Stunden laufen. Ich habe mich anfangs gar nicht getraut, ihn überhaupt anzusprechen, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass er mit mir kleinem Licht etwas anzufangen wüsste“, sagt er.

Doch weil Pflieger seit Jahren einen guten Kontakt zum norwegischen Spitzenläufer Sondre Moen (29) pflegt, der nach Rio 2016 zu Canova gewechselt war und ein Jahr später in Fukuoka (Japan) in 2:05:48 Stunden den Europarekord knackte, riet ihm dieser, wenigstens das Gespräch zu suchen. Ergebnis: Canova nahm Pflieger in seine Trainingsgruppe auf. Und seitdem ist nichts mehr, wie es mal war.

Grenzen verschieben

„Renato hat eine unglaubliche Aura. Mit seiner Art hat er mich dazu gebracht, Grenzen zu verschieben, die ich mir über zwölf Jahre unbewusst im Kopf gesetzt hatte“, sagt Philipp Pflieger. Vor vier Wochen sei er im Training allein und mit nur zwei Trinkstopps 40 Kilometer mit einem Kilometerschnitt von 3:11 Minuten gelaufen. „Das war für mich früher undenkbar.“ Ein normales Programm sei für ihn zehnmal 1000 Meter in Höchsttempo gewesen. „Bei Renato fängt das bei zwölf Kilometern erst an, zehnmal 1600 Meter ist völlig normal.“ Wie es möglich gewesen ist, diese Umstellung zu schaffen? „Indem ich bereit war, ein halbes Jahr Dreck zu fressen auf eine Art, zu der ich in den vergangenen Jahren nicht bereit war“, sagt Pflieger, der zugibt, „am Anfang vieles nicht geschafft zu haben, was Renato gefordert hat. Aber er hat darüber nicht geschimpft, sondern nur gesagt, beim nächsten Mal würde ich mehr schaffen. Und so war es auch.“

Die Erträge des neuen Trainings hat der Adidas-Athlet wegen der Corona-Pandemie nur selten im Wettkampf abgleichen können. Nach dem Halbmarathon in Barcelona Anfang Februar, den er in persönlicher Bestzeit von 62:50 Minuten hinter sich brachte, gab es lediglich einen Stundenlauf im norwegischen Kristiansand im August, den Köhlbrandbrückenlauf in Hamburg Anfang Oktober, den Pflieger nur angesichts seiner Verbundenheit zu seinem Verein absolvierte – und ein 10.000-Meter-Rennen in Berlin. „Dort bin ich direkt aus dem Trainingslager in Italien im September angetreten und habe mit 28:49 Minuten eine persönliche Bestzeit geschafft. Das hat mir immerhin das Gefühl gegeben, auf dem richtigen Weg zu sein.“

Erster Marathon seit Berlin im September 2019

Ob dieser Weg auch in seiner Paradedisziplin zum Ziel führt, will der Ausdauerspezialist, der mit dem ARD-Sportreporter Ralf Scholt den Podcast „Bestzeit“ produziert, nun in Valencia überprüfen. Es ist sein erster Marathon seit Berlin im September 2019, seinen Startplatz für London Anfang Oktober hatte er in Absprache mit Canova nicht wahrgenommen, „weil er nicht in unseren Plan passte“. Da ansonsten in dieser Saison fast alle Marathons abgesagt werden mussten, ist das Interesse an einem Start im rund 200 Teilnehmer umfassenden Elitefeld riesig. „Es wird neben Rio das beste Feld sein, in dem ich je gestartet bin, vor allem auf meinem Leistungsniveau. Ich bin sehr gespannt, wie ich mich dort einordnen werde. Aber ich bin sehr optimistisch, denn ich kann sagen, dass ich niemals fitter war als jetzt und mich sehr gut vorbereitet fühle“, sagt er.

Selbst das jedoch könnte am Ende nicht genug sein, um auch in Tokio an den Start gehen zu dürfen. Zum einen haben mit Amanal Petros (25), der vor einem Jahr in Valencia 2:10:29 lief, und Hendrik Pfeiffer (27/beide Wattenscheid), der im Februar 2020 in Sevilla 2:10:18 schaffte, zwei deutsche Läufer bereits die Norm geknackt. Pro Nation sind nur drei Starter gestattet. Der deutsche Rekordhalter Arne Gabius (39/2:08:33), in Hamburg geboren und für Bottwartal aktiv, wird im Frühjahr einen weiteren Angriff starten. Zudem gibt in Valencia mit Richard Ringer (31/Friedrichshafen) ein langjähriger 5000- und 10.000-Meter-Spezialist sein Marathondebüt und hat dafür angekündigt, die Olympianorm knacken zu wollen.

Lesen Sie auch:

Philipp Pflieger lässt das alles relativ kalt. „Das sind die Jungs, die Druck haben. Für mich ist es gut, unterm Radar zu fliegen und zu schauen, was wirklich möglich ist.“ Wenn es nicht klappt mit Tokio, wird er sich neue Ziele setzen. Wichtig ist nur, dass der Spaß am Laufen zurück ist, größer als seit langer Zeit.